1935 schrieb der Philosoph Walter Benjamin einen Aufsatz mit dem etwas sperrig klingenden Titel „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. Benjamin spricht sich darin gegen die Möglichkeiten von Fotografie und Film aus, ein Kunstwerk zu vervielfältigen (klassisches Beispiel: Gemälde der Mona Lisa – Fotos von der Mona Lisa). Dadurch verliere das ursprüngliche Kunstwerk seine Aura. Der Grund, warum Sherlock Holmes und Walter Benjamin gut zusammengedacht werden können, liegt schon darin begründet, dass Sherlock Holmes, die am meisten portraitierte Romanfigur in Film und Fernsehen ist. Jede Zeit hatte ihren eigenen Sherlock. Dutzende Weltklasseschauspieler liehen Arthur Conan Doyles Romanvorlage ihr Gesicht, nun eben auch Ian McKellen. Der berühmte Meisterdetektiv Sherlock Holmes (Ian McKellen) ist mittlerweile 93 Jahre alt. Mit seiner neuen Haushälterin Mrs. Munro (Laura Linney) und deren elfjährigem Sohn Roger (Milo Parker) lebt er zurückgezogen auf seinem Landsitz in Sussex und kümmert sich um seine Bienen. Beunruhigt stellt das einstige Mastermind fest, dass ihn sein legendäres Gedächtnis langsam aber sicher im Stich lässt. Vor allem plagt ihn, dass er sich nicht mehr an den Fall erinnern kann, der ihn vor 30 Jahren dazu brachte, sich aus dem Detektivgeschäft zurückzuziehen. Er weiß nur noch, dass es um eine schöne Frau ging. Mehr und mehr gelangt Holmes zu der Überzeugung, dass er unbedingt herausfinden muss, was damals wirklich passiert ist. Es wird der letzte große Fall des Sherlock Holmes.
Wahrheit, Fiktion und das Alter
MR. HOLMES basiert auf dem Roman „A Slight Trick of the Mind“ von Mitch Cullin und geht davon aus, das Sherlock Holmes eine reale Person ist, deren Abenteuer von seinem Freund und Weggefährten Dr. John Watson zu Romanen verarbeitet wurden. Der reale Holmes macht sich darin über seine Anhänger lustig, die in die Baker Street pilgern oder denken, er rauche gerne Pfeife, was natürlich völlig falsch ist. Bezüge zum aktuellen Fankult lassen sich erkennen (→ Fan-Aktion “Believe in Sherlock”, → #Setlock). Die Tür neben → Speedy’s ist seit 2010 ja beliebtes Fotomotiv und das Speedy’s selbst zur Pilgerstätte nationaler, aber besonders internationaler Gäste geworden. Zurück zur Handlung: Sherlock ist 93. Mycroft, Mrs. Hudson und auch John Watson sind bereits verstorben. Vergesslichkeit scheint für ihn das größte Problem zu sein. Sich nicht mehr an Namen und Orte erinnern zu können. Ein Wundermittel muss her. Erfolg verspricht Anispfeffer, doch dazu muss er nach Japan reisen, was für einen Mann in seinem Alter ungeheuer beschwerlich ist. Doch witzigerweise funktioniert auch das nicht. Der Junge Roger mit seinen neugierigen Fragen hilft viel mehr beim Erinnern als ursprünglich gedacht und wird zum Verbündeten vom Sherlock während Mrs. Munro die körperliche Gesundheit überwacht. Mutter und Sohn sind daher eine unschlagbare Einheit zur Überwachung von Körper und Geist des ehemaligen Meisterdetektivs.
Poetisches Drama mit großartiger Besetzung
Zwei alte Fälle werden mit der im England des Jahres 1947 spielenden Handlung verwoben. Nach Bill Condons Narrationsfiasko INSIDE WIKILEAKS gelingt ihm hier dieses Verweben ausgesprochen gut. Witzigerweise arbeitete er in diesem Film mit dem BBC-Sherlock-Darsteller Benedict Cumberbatch und besetzte für MR. HOLMES Philip Davis, den man → als mordenden Taxifahrer aus der Pilotfolge kennt. Er darf hier die Seiten wechseln und als Inspector Gilbert ermitteln. Auch wenn man das nicht sollte, wird man Ian McKellen mit all den anderen Sherlock-Darstellern vergleichen. Alle Bauchschmerzen diesbezüglich sind aber unbegründet, denn bei McKellens Sherlock ist dies schlichtweg nicht möglich. Allein schon wegen des gehobenen Alters und den gedanklichen Aussetzern setzt sich diese Figur von allen bekannten Sherlock-Versionen ab. Aber auch Ian McKellen, der sich abermals für Preisverleihungen empfiehlt, punktet mit einer minimalistischen Spielweise. Hier mal ein Grummeln, da mal ein Augenzwinkern. Häufig muss nicht einmal viel gesagt werden um eine Stimmung auszudrücken. Im Grunde spielt er Holmes zu zwei Zeitpunkten, einmal im Alter von 62, einmal als 93-Jähriger, was durch ein großartiges Makeup (→ Making of Makeup) unterstrichen wird. Milo Parker und Ian McKellen bilden ein sympathisches Dreamteam, während Laura Linney die besorgte Aufpasserin spielt.
Sicherlich könnte man monieren, dass nicht deutlich genug auf den „Weltkriegskontext“ (siehe dazu die gelungene Kritik auf → Feuilletonistisch) eingegangen wird. Schließlich reist Sherlock sogar bis ins ferne Japan nach Hiroshima, das nach dem Krieg an manchen Ecken vollständig zerstört ist. Auf der anderen Seite lässt sich dies auch als narrativer Schachzug deuten, da Sherlock sich nur noch bruchstückhaft erinnern kann und sich daher auf das Wesentliche (Orte und Namen) beschränkt und die emotionale Ebene völlig unberührt bleibt. Um einmal mit der SHERLOCK-Serie, insbesondere der „Great Game“-Folge, zu argumentieren: → „Will caring about them help save them?“ „No.“ „Then I continue not to make that mistake.“ Der Witz in MR. HOLMES ist häufig sehr subtil und passt zu dem ruhigen, aber nie zähen, Erzähltempo. Für Fans der Downey Jr.-Filme ist der Film daher wohl eher uninteressant. Wer allerdings schöne Landschaften, detailreiches Setdesign, eine spannende Geschichte und ein starkes Schauspielensemble schätzt, macht mit MR. HOLMES nichts falsch. Hätte Benjamin den Film gesehen, dann müsste er einsehen, dass ein reproduziertes Kunstwerk bzw. eine kopierte Romanfigur durchaus das Zeug hat, eine eigene Aura zu entwickeln und dem Original einen besonderen Aspekt abzugewinnen. MR. HOLMES gelingt das außerordentlich gut.
(6/6)
Trailer: Alamode Filmverleih
Endlich mal jemand dem der Film genauso gefällt wie mir. Ich habe wenig erwartet, weil ich so langsam keine Holmes-Verfilmungen mehr brauche und gleichzeitig doch eine Menge von Ian McKellen erwartet. Wenn das kein Widerspruch ist. Und ich halte das für eine grandiose Geschichte und ebenso grandiose Umsetzung. Einer meiner Gedanken beim Lesen der Bücher war früher sowieso oft „Wie kommt der wohl damit klar, wenn er alt wird?“