Dass ich aufgrund irgendwelcher toller Schauspieler ins englischsprachige Ausland fliege, ist normal. Auch die Tatsache, dass ich inzwischen ohne mit der Wimper zu zucken über fünf Stunden mit öffentlichen Verkehrsmitteln ins deutschsprachige Ausland fahre um ein Theaterstück zu sehen, ist inzwischen normal. Was hingegen selbst für mich ungewöhnlich ist: einen Abend lang einem Schauspieler hinterherzulaufen. Und das nicht etwa, weil meine Passion inzwischen krankhafte Züge angenommen hätte, sondern weil bei diesem Stück die Straße zur Bühne gemacht wird. Die herumlaufenden Passanten werden zu unfreiwilligen Statisten. Bespielt wird alles. Das Rheinufer. Eine Tram. Ein Park. Eine Bar. Und der Zuschauer, der es gewohnt ist, dass die Szenenwechsel auf der Bühne stattfinden, sorgt selbst dafür, was er sieht und aus welcher Perspektive. Ein solches Stück gibt es momentan am Theater Basel. In DIE NACHT KURZ VOR DEN WÄLDERN erzählt der namenlose Protagonist (Michael Wächter), der einen Schlafplatz „für einen Teil der Nacht“ sucht und auf keinen Fall in einer Fabrik arbeiten möchte, weil er sich nichts sagen lassen möchte, dem Publikum von seinem Leben. Der Zuschauer geht dabei mit. Quer durch Basel. Die Stimme des Protagonisten immer mittels Kopfhörer im Ohr.
Theaterstück und Stadtrundgang in einem
Ich liebe es ja, wenn Theater mal woanders stattfindet, als im Theater. Was ich hingegen gar nicht mag, ist von Schauspielern von der Bühne herab angequatscht werden. Somit war ich ziemlich gespannt inwiefern die Zuschauer bei diesem „Spaziergang“ eingebunden werden. Und wie das Wetter werden würde. Ein paar Tage zuvor war nämlich noch Regen gemeldet. Meine zwei Befürchtungen – direkt angequatscht werden und Regenwetter – wurden relativ schnell entkräftet. Um diese 16-köpfige Gruppe an diesem kalten, aber trockenen Aprilabend durch die Baseler Innenstadt zu dirigieren, reicht schon ein simples „Kamerad, komm!“. Natürlich muss man ein bißchen links und rechts schauen, weil ja immer noch Autos fahren und Leute herumlaufen, aber das Prinzip funktioniert großartig. Auch am Barfüsserplatz, wo uns der namenlose Protagonist mal von der einen Seite auf die andere geschickt hat, und dann wieder zurück. In solchen Momenten, insbesondere bei überraschenden Richtungswechseln, bei denen auch mal ein vorbeifahrender Radfahrer kurz erschrickt, oder wenn unsere monologeschwingende Bezugsperson einfach mal ohne Vorwarnung wegrennt, entwickelt das Stück auch eine gewisse Komik. Etwa wenn Passanten mit verwunderter Mine vorbeilaufen und sich nicht erklären können, was da vor sich geht.
Verlassen und trotzdem nicht allein
Das Stück endete so abrupt wie es angefangen hat. Irgendwann hat ein Theatermitarbeiter die Kopfhörer wieder eingesammelt und das war’s. Auf dem Weg zum Hotel war einer meiner ersten Sätze nach dem Stück: „Der kann doch nicht einfach abhauen. Ich fühle mich grad total verlassen.“ Und das ist durchaus eine Kunst. Denn dieser namen-, arbeits- und mittellose Typ, der mal von irgendwelchen Frauengeschichten, mal von einer weltweiten Verschwörung erzählt, ist nicht unbedingt sympathisch. Es gibt auch Momente, wo man den Kopf schüttelt und nicht so recht weiß, was man von ihm halten soll. Und trotzdem läuft man gerne mit. Das liegt natürlich in erster Linie an Michael Wächter, der erwartungsgemäß das Ding mal wieder rockt. Als er an der Supermarktkasse kurz davor war in Tränen auszubrechen und mit brüchiger Stimme weitererzählt hat, stand ich hilflos davor und wusste nicht so recht wohin mit mir.
One-Man-Show im Stadtbild
Was für eine One-Man-Show! Ich bin immer noch fassungslos, wie man so viel Text lernen und dann so gut rüberbringen kann. Das liegt auch an Michael Wächters Stimme, der ich wahnsinnig gerne lausche. Er könnte mir auch einen Beipackzettel vorlesen und ich fände es spannend. Auch wenn man ihn mal nicht im Blickfeld hat, weil er gerade wieder um eine Ecke gebogen ist, hört man ihn trotzdem noch reden und das hat dann ein bißchen was von einem Hörbuch. Ein Hörbuch, wo der Vorleser direkt neben oder vor dir läuft, man dabei im Hintergrund noch den Straßengeräusche hört, und dir den Text vorspielt. Es sollte viel mehr solcher Stücke geben. Für das Theater ist es wenig Aufwand, da kein Bühnenbild nötig ist und Basel in der Abenddämmerung eh schon ein verdammt gutes „Bühnenbild“ abgibt, und die maximal 20 Personen haben einen erschwinglichen und intensiven Theaterabend. Ich hoffe sehr, dass es so ein Stück auch in München mal gibt. Ich bin wirklich schwer begeistert und kann es nur empfehlen.
Gesehen am 13.04.2019 und 13.05.2019 im Stadtgebiet von Basel
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→ SingendeLehrerin hat auch eine großartige Rezension über den Abend geschrieben. Wer also noch Lust auf eine weitere Einschätzung zum Stück hat, kann hier weiterlesen.
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