Vielleicht lag es daran, dass ich am gleichen Tag des Kinobesuchs eine Kurzreportage gesehen habe. Über einen deutschen Arzt, der in einer Klinik Patientinnen → betäubt, vergewaltigt und das Ganze auch noch gefilmt hat. Mögliche Opfer wurden seitens der Polizei auch nicht informiert. Man möchte ja schließlich keinen Schock bei den Betroffenen auslösen. Und vom Krankenhaus will auch keiner was gewusst haben. Daher war ich wohl besonders empfänglich für die Geschichte von PROMISING YOUNG WOMAN. Die 30-jährige Cassie (Carey Mulligan) lebt immer noch bei ihren Eltern und langweilt sich bei ihrer Arbeit in einem Coffee Shop. Nachts führt sie aber ein geheimes Doppelleben. Sie besucht Bars und Clubs, wo sie vorgibt, betrunken zu sein, um sich von „hilfsbereiten“ Männern nach Hause nehmen zu lassen, wo sie ihnen dann eine gehörige Lektion erteilt. Der Grund für Cassies Rachemission ist ihre Freundin Nina, die an der Universität, an der die beiden Medizin studiert haben, sexuell missbraucht wurde, was damals allerdings unter den Teppich gekehrt wurde und keine Konsequenzen für die Täter und Mitwisser hatte.
„Who needs brains? They never did a girl any good.“
Wenn ich mich richtig erinnere, ist PROMISING YOUNG WOMAN der erste Film dieses Jahr, der die volle Punktzahl von mir bekommt. Wie schon eingangs erwähnt, kann das daran gelegen haben, dass ich genau in der richtigen Stimmung für diesen Film war, aber auch so ist dieser Film ein wirklich gelungener Rachefilm, der aber durchaus auch seine amüsanten Momente hat. Insbesondere, wenn der repetitive Charakter der immergleichen, unkreativen Anmach-Floskeln wie „Du bist so schön“ deutlich wird. Cassies Zynismus ist ebenfalls sehr unterhaltsam. Wohl auch deshalb wurde das Drehbuch in diesem Jahr mit einem Oscar ausgezeichnet. Zudem wird richtigerweise auch darauf hingewiesen, dass Vergewaltigungen häufig von mehreren Personen, manchmal sogar auch Frauen, gedeckt werden. Cassie fungiert als Racheengel, der immerzu in der Vergangenheit schwelgt und erst Ruhe gibt, wenn alle Schuldigen zur Rechenschaft gezogen wurden.
Das System von Mr. Nice Guy
Was PROMISING YOUNG WOMAN von anderen Rachefilmen unterscheidet, sind zum einen die Gegenspieler. Die männlichen Charaktere beschreiben sich gerne als „Gentleman“ oder „Nice guys“, verhalten sich aber überhaupt nicht gentlemanlike. Zum anderen entspricht die Protagonistin überhaupt nicht dem gängigen Klischee einer weiblichen Rachefantasie. Cassie ist keine gewalttätige Kämpferin wie z.B. die Braut aus KILL BILL. Sie kommt in jedem ihrer Feldzüge ohne Gewalt aus. Trotzdem gelingt es ihr ein Umdenken bei ihrem Gegenüber auszulösen. Cassie ist wie ein Spiegel, in dem die vermeintlichen „nice guys“ ihr wahres Gesicht zu sehen zu bekommen. Das Drehbuch von Autorin und Regisseurin Emerald Fennell hat besonders in solchen Momenten eine besondere Wucht.
Rache mit Zuckerguss
In PROMISING YOUNG WOMAN gibt es sowohl auf der Bild- und Tonebene viel zu entdecken. Der Film steckt voller religiöser und mythologischer Anspielungen. In vielen Szenen bekommt Cassie vom Setdesign einen Heiligenschein verpasst oder hat die Arme von sich gestreckt wie der gekreuzigte Jesus. Zudem ist Cassie sehr mädchenhaft und farbenfroh gekleidet, was ihr eine gewisse Unschuld verleiht, aber auch verdeutlicht, dass Cassie mental noch sehr in der Vergangenheit festhängt. Ich benutze den Begriff „Meisterwerk“ ja äußerst sparsam, aber PROMISING YOUNG WOMAN ist eines. Und einfach in jeder Hinsicht durchdacht, spannend und zuckersüß.
10/10
PROMISING YOUNG WOMAN erscheint am 31. Dezember 2021 auf DVD und Blu-Ray.
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