Manche Filme werden mit jeder Sichtung besser. ENCANTO ist so ein Film. Die Geschichte der Familie Madrigal geht auch beim zweiten Mal noch genauso ans Herz wie beim ersten Mal. Im Zentrum der Geschichte steht die Familie Madrigal. Sie lebt in den Bergen Kolumbiens in einem magischen Haus. Doch nicht nur das Haus ist voller Magie, auch die Bewohner haben besondere Fähigkeiten. Während einige Familienmitglieder Heilzauber anwenden können, sind andere übermenschlich stark oder können sich in jede Person verwandeln, die sie wollen. Nur Mirabel (Stimme im Original: Stephanie Beatriz) hat keine Gabe erhalten und sticht mit ihrer Normalität aus der Familie heraus. Als die Kräfte der magischen Kerze, die einst für den Encanto (spanisch für „Zauber“ oder „Verzauberung“) verantwortlich war, schwinden, beschließt Mirabel das Wunder zu retten.
Representation matters!
Lange Jahre hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass Geschichten über ethnische Minderheiten sich nicht gut verkaufen würden. Bei Disney und seinen angeschlossenen Animationsstudios weiß man es inzwischen besser. In COCO ging es bereits in Mexiko um das kulturelle Erbe der Totenverehrung. In LUCA ging es an die italienische Riviera und um die Vorzüge der italienischen Ess- und Lebenskultur. Mit ENCANTO macht Disney nun einen Ausflug in den Dschungel von Kolumbien. Mehrere Videos von kleinen Kindern, die sich selbst in den Charakteren wiedererkannten, gingen viral. Sich in Filmen wiederzuerkennen, wurde lange unterschätzt und allenfalls in der Arthouse-Sparte umgesetzt und gefeiert. Mirabel ist die erste weibliche Disney-Hauptfigur, die Brillengläser trägt. Als braunhaarige Brillenträgerin fühle ich mich da natürlich auch als Erwachsene sehr vom Film abgeholt.
El canto
Musicals oder Musikfilme sind ja immer so eine Sache. Manche lieben sie, manche hassen sie. Bei ENCANTO gab es diesbezüglich eine Arbeitsteilung. Der Score stammt von Germaine Franco, die einzelnen Songs von HAMILTON-Star Lin-Manuel Miranda. Im Hinblick auf die Songs, die permanent von lateinamerikanischen Rhythmen durchzogen sind, gibt es eigentlich nur ein Lied, das stilistisch etwas aus der Reihe tanzt. Das Lied der starken Luisa „Surface Pressure“ wirkt mit seinen poppigen Elementen ein bißchen untypisch, auch wenn das Lied durchaus einen hohen Wiederhörwert hat. Der Soundtrack ist in jeder Hinsicht wirklich stark aufgestellt und gute Laune.
Hohe Erwartungen
ENCANTO behandelt, trotz dem klassischen Bild der lateinamerikanischen Großfamilie, auch relativ moderne Themen wie Helikoptereltern (wo es in diesem Fall wohl eher eine Helikopter-Oma ist). Das Grundthema des Films ist, wie Kinder und Kindeskinder den hohen Erwartungen einer Generation, die nichts hatte und sich von Grund auf neu erfinden musste, nicht gerecht werden. Und wie der Clash der Generationen und unterschiedlichen Lebensentwürfe zu Zerwürfnissen innerhalb der Familie führen kann. Erst durch den Verlust der magischen Fähigkeiten erkennen alle Familienmitglieder, dass sie mehr sind als die Kraft, die sie besitzen. Durch den besonderen Status, den Familie Madrigal in der Dorfgemeinschaft hat, liegt auch ein gewisser Druck auf allen Familienmitgliedern. Mirabel zeigt als sympathische Heldin, dass man sich treu bleiben sollte und für seine Ideale einstehen sollte, auch wenn nahestehende Personen anderer Ansicht sind.
9/10