Jedes Mal, wenn Simon Stone wieder ein neues Theaterstück rausbringt, werde ich hellhörig. Das hat in erster Linie mit den DREI SCHWESTERN zu tun, das zu meinen absoluten Lieblingstheaterstücken gehört. Sein neustes Stück UNSERE ZEIT spielt über mehrere Jahre an einer Tankstelle. Irgendwo außerhalb von München. Tankstellenbetreiber Konrad (Simon Zagermann) versteckt den Flüchtling Hawal (Delschad Numan Khorschid), was die Sozialarbeiterin Ruth (Barbara Horvath) auf den Plan ruft. Konrad stellt die junge Ulli (Antonia Münchow) an der Kasse ein. Dort arbeitet sie mit Peter (Benito Bause), der sich neben seinem Studium noch etwas dazuverdient. Schnell lernt sie Massimo (Nicola Mastroberardino) kennen. Der lungert immer wieder vor der Tankstelle herum und faselt unverständliches Zeug. Häufig zu Gast ist neben dem koksenden Fußballmanager Felix (Florian Jahr), dem desillusionierten Paketboten Martin (Max Rothbart) und dessen On-Off-Liebe Eric (Thiemo Strutzenberger) auch der Kriminalbeamte Stanislaw (Oliver Stokowski), der nebenberuflich auch noch als Zuhälter arbeitet und mit der Escortlady Julia (Liane Amuat) Geschäfte macht. Der erfolglose Bauunternehmer Georg (Michael Wächter) und seine Frau Elisabeth, eine millionenschwere Erbin (Franziska Hackl) haben sich auseinandergelebt, bleiben aber wegen der Kinder noch zusammen. Weil deren Tochter Yasmin (Pauline Huber) im Krankenhaus auf eine Spenderniere wartet, kommt die Friseurin Sophie (Massiamy Diaby) ins Spiel, der Elisabeth einen illegalen Organhandel anbietet. Als ihre Schwester Thea (Yodit Tarikwa) davon erfährt, stellt sie Elisabeth ein Ultimatum.
Tankstellen-Nostalgie
Bevor wir zur Handlung und zum Schauspiel kommen, müssen definitiv Worte über die Bühne bzw. das Bühnenbild verloren werden. Die spanische Bühnenbildnerin Blanca Añón hat eine nahezu funktionstüchtige Tankstelle auf der Drehbühne aufgebaut. Vor der Tür stehen Blumen und Anti-Frostmittel. Drinnen ist ein Pfandflaschenautomat und eine Postannahmestelle. Der Detailreichtum ist wirklich verblüffend. Selbst die Tankstellenrückseite, mit Graffitis und Eddingkritzeleien auf der Toilette verschmiert, passt ins Bild. Gepaart ist alles mit Simon Stones Vorliebe für Glas. Das sorgt auch dafür, dass alle Schauspielenden Mikrofone tragen, weil sie ohne diese in der Tankstelle nicht zu hören wären. Stimmen aus Lautsprecherboxen muss man mögen.
Die Tankstelle der hoffnungslosen Existenzen
5 Stunden und 45 Minuten mit zwei Pausen. Solange dauert UNSERE ZEIT. Schon in einigen Kritiken vorher habe ich gelesen, dass die Verfassenden diese lange Laufzeit hinterfragt haben. Und auch wenn man die gesamte Laufzeit mit den Pausen gut durchsteht, ist besonders im Mittelteil ein gewisse Trägheit zu spüren. Das liegt teilweise auch etwas am Text. Manche Sätze fühlen sich sehr künstlich an. Beispiel gefällig? „Die Welt scheint darauf erpicht zu sein, mich zu ficken.“ Als hätte man die Sätze durch Google Translate gejagt und nicht mehr nachträglich drüberkorrigiert. Das Wort „fuck“ in all seinen Bedeutungen wird auch überdurchschnittlich oft in UNSERE ZEIT verwendet. Ob es das braucht, kann man sicher auch hinterfragen.
Klagelied der (noch nicht ganz so) alten weißen Männer
Inhaltlich lässt sich ein kleinster gemeinsamer Nenner finden: die weißen Männer haben das Nachsehen und kommen damit nicht klar. Sie beklagen sich über ihre Lage. Dabei machen sie nicht das gesamtheitliche System verantwortlich, in dem sie sich befinden, sondern schieben die Verantwortung – auch für eigenes Missverhalten – auf „die da oben“, Wirtschaft oder die Flüchtlinge, die angeblich irgendwem die Arbeitsplätze wegnehmen. Auch wenn die Botschaft ankommt, kann man auch hier fragen, ob es dafür wirklich über fünf Stunden Laufzeit braucht um das dem Publikum klarzumachen. Auf der anderen Seite gönnt man jedem im Resi-Ensemble, dass er oder sie nach der Corona-Pause endlich wieder spielen darf. Und die Spielfreude ist sichtbar.
7.5/10
Gesehen am 02.10.2021 im Residenztheater