Nach seinem London-Debüt im letzten Jahr mit THE ENEMY OF THE PEOPLE kehrt Regisseur Thomas Ostermeier wieder zurück. Dieses Mal ins Barbican Centre. Tschechows Klassiker THE SEAGULL spielt hier in einem sommerlichen Maisfeld. Im Zentrum der Geschichte steht die berühmte Schauspielerin Irina Arkádina (Cate Blanchett), deren überwältigende Präsenz sowohl auf der Bühne als auch im Privaten alles dominiert. Ihr Sohn Konstantin Treplev (Kodi Smit-McPhee) kämpft verzweifelt um künstlerische Anerkennung, während er im Schatten seiner berühmten Mutter steht. Als die junge, aufstrebende Schauspielerin Nina (Emma Corrin) auftaucht, entspinnt sich ein komplexes Geflecht aus Begehrlichkeiten. Denn nicht nur Konstantin verfällt Nina, auch Arkadinas Liebhaber, der erfolgreiche Schriftsteller Alexander Trigorin (Tom Burke) richtet seine Aufmerksamkeit auf die junge Frau. Währenddessen schmachtet die Gutsbesitzertochter Masha (Tanya Reynolds) unglücklich nach Konstantin, während der Lehrer Simon (Zachary Hart) seinerseits Masha anhimmelt.

Mit dem Quad auf die Bühne
Die Inszenierung beginnt überraschend: Zachary Hart braust auf einem Quad durch das Maisfeld, durchbricht die vierte Wand und greift schließlich zur E-Gitarre und singt. Diese unkonventionelle Eröffnung und das Bühnenbild sind dann auch die größte Überraschung in dieser Inszenierung, die ansonsten sehr klassisch daherkommt. Magda Willi hat als Bühnenbildnerin einen interessanten Spielort geschaffen. Das dichte Maisfeld in der Bühnenmitte bietet nicht nur einen passenden Hintergrund, sondern funktioniert auch als natürliches Ein- und Ausgangsszenario. Die Figuren tauchen plötzlich aus dem Mais auf, verschwinden wieder oder lauschen versteckt den Gesprächen anderer. Davor platzierte Sonnenliegen und Stühle bilden den Hauptschauplatz der dramatischen Entwicklungen.

Cate, the Great
Cate Blanchett glänzt in der Rolle der Arkadina. Ich könnte mir auch vorstellen, dass es dafür eine Olivier-Award-Nominierung als beste Hauptdarstellerin geben könnte. Sie verkörpert diese Diva mit all ihren Widersprüchen – mal überheblich auftrumpfend, mal zerbrechlich flehend, als Trigorin sie verlassen möchte. Wenn sie ihrer depressiven Nicht-Schwiegertochter in spe einen motivierenden Vortrag hält, der in Stepptanz und Spagat mündet, erzeugt sie gleichzeitig Fremdscham, aber auch Mitgefühl. „Es geht hier nicht um mich!“ beteuert sie. Während sie ein T-Shirt mit ihrem eigenen Namen trägt. Die vielen Facetten dieser komplexen und auch nicht immer sympathischen Frau kann Blanchett gut herausarbeiten und hat sichtlich Spaß dabei. Die schwierige Mutter-Sohn-Beziehung zwischen Arkadina und Konstantin strahlt in jeder gemeinsamen Szene. Blanchett und Smit-McPhee vermitteln geschickt die emotionale Distanz zwischen zwei Menschen, die einander nicht erreichen können.

Moralpredigt im Maisfeld
Tanya Reynolds begeistert mit ihrer „Goth-Version“ von Masha. Emma Corrins Nina bleibt hingegen enigmatisch, fast kühl und undurchsichtig in ihrer Darstellung. Daher fiel es mir auch schwer zu verstehen, warum die Männerwelt in THE SEAGULL derart von ihr begeistert ist. Trigorin (Tom Burke) hält schließlich eine Rede an das Publikum. Es brauche mehr Aktivisten, Helden, Menschen wie Mandela oder Selenskyj. Die Lichter im Saal gehen in diesem Moment auch an. Es ist eine Ansprache von oben herab auf das Publikum. Belehrend mit dem erhobenen Zeigefinger. Das ist dahingehend ungewöhnlich, weil Ostermeiers Vorjahresinszenierung THE ENEMY OF THE PEOPLE einen komplett gegensätzlichen Ansatz verfolgte. In ENEMY gab es eine Stelle, in der Mikrofone im Publikum verteilt und einzelne Leute aus dem Publikum ihre Meinung zum Stück gebeten wurden. Und gerade im direkten Vergleich gefällt mir der Bottom-up-Ansatz besser als der Top-down-Ansatz. Zumal ich mir auch die Frage gestellt habe, wer denn der Adressat für diese Ansprache sein soll. Es sitzt ja niemand im Publikum und denkt sich: „Oh ja, stimmt. wir brauchen mehr Aktivismus. Dann mache ich das jetzt.“

Starbesetzung als Meta-Ebene
THE SEAGULL thematisiert künstlerische Selbstfindung und den Preis von Berühmtheit – und ist selbst mit einem Star-Ensemble besetzt. Das Stück hinterfragt die Mechanismen des Ruhms, während es selbst vom Starkult profitiert. Denn es ist durchaus davon auszugehen, dass hier im Publikum nicht nur die üblichen Theaterfreunde oder Tschechow-Enthusiasten sitzen, sondern auch Menschen, die man normalerweise nicht im Theater sieht. Und was bedeutet es, wenn eine weltweit bekannte Filmschauspielerin wie Cate Blanchett eine Figur verkörpert, die von ihrer schwindenden Relevanz gequält wird? In Zeiten, in denen die Filmindustrie mit Streiks, milliardenschweren Flops und fundamentaler Kritik an ihren Machtstrukturen konfrontiert ist, könnte man den Eindruck gewinnen, THE SEAGULL wäre → ein Abgesang auf den klassischen Filmstar. THE SEAGULL wirft auch die zeitlose Frage auf, ob Authentizität und Prominenz überhaupt koexistieren können. Die Zuschauer werden zu Komplizen, wenn sie dem Starkult beiwohnen, der im selben Atemzug kritisiert wird.
Gesehen am 05.03.2025 im Barbican Centre, London
7.5/10