Es muss komisch sein, wenn das erste Kennenlernen durch die Linse einer Kamera stattfindet. Genauso ergangen ist es aber dem Regisseur Tim Travers Hawkins bei seiner Doku XY CHELSEA. Als Chelsea Manning von Präsident Obama begnadigt und am 17. Mai 2017 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion nach fast 7 Jahren aus der Haft entlassen wurde, ist er mit dabei. Er schaut durch die Kamera und dokumentiert, wie sehr sich ihre Freunde und Unterstützer wie etwa ihre Anwältin Nancy Hollander über die überraschende Wende freuen. Lisa Rein, eine Unterstützerin der ersten Stunde, lernt Chelsea erst nach ihrer Freilassung leibhaftig kennen. Nachdem sie sich von der Haft erholt und zahlreiche Interviews gegeben hat, muss sich Manning neu orientieren. Sie beschließt für den Senat zu kandidieren. Keine einfache Aufgabe für eine vorbestrafte Whistleblowerin, die geheime Informationen über den US-Krieg in Afghanistan und Irak an Wikileaks weitergab.
Schon wieder im Gefängnis
XY CHELSEA lief auf dem diesjährigen Filmfest München. Dort war auch der Regisseur zugegegen, der eigentlich vorhatte, dass Chelsea mit nach München kommt. Leider sei diese momentan wieder im Gefängnis, erklärte er im Q&A. Nachdem sie sich geweigert hatte vor einer Grand Jury gegen Wikileaks auszusagen, wurde sie in Beugehaft genommen. Heißt im Klartext: Isolationshaft. Manning hält den Grand-Jury-Prozess für inakzeptabel und ihre Anwälte betonten, dass auch die Beugehaft nichts nützen wird, da sie zu ihren Prinzipien stehe. Und wenn man diese 92 Minuten gesehen hat, kann man das verstehen. Man lernt Chelsea als wahnsinnig sensiblen und dennoch bestimmten Charakter kennen. Ein bißchen erinnerte mich ihre Art an Edward Snowden, der nicht nur “Whistleblower-Kollege” ist, sondern auch diese ruhige, kluge und bedachte Art hat, wenn er spricht.
Spannendes Sujet
Der Fall Chelsea Manning ist in vielerlei Hinsicht spannend. Von Chelsea gibt es bislang weitaus weniger Bewegtbildmaterial als von einem Edward Snowden oder Julian Assange. Zum anderen hinterfragt er auch die amerikanische Justiz und das Motiv der Bestrafung als Schikane. Chelsea wurde bei ihrer ersten Verurteilung zu 35 Jahren Gefängnis in einem reinen Männergefängnis verurteilt, obwohl sie bereits als Trans-Frau geoutet hatte. So kam zu der eigentlichen Bestrafung des Freiheitsentzugs auch noch eine psychologische Bestrafung hinzu. Travers Hawkins begleitet Chelsea auch zu den Hochglanz-Fotoshootings, die im direkten Vergleich zu den privaten Begegnungen noch gekünstelter wirken, als sie eh schon sind. Da ist mir die Chelsea, die mit knallroten Lippen im Wald herumläuft, viel lieber. XY CHELSEA ist in vielerlei Hinsicht parteiisch und macht sich mit seinem Subjekt gemein. Doch das muss er auch, denn Chelsea ist in der öffentlichen Wahrnehmung schon wieder verschwunden. Davon abgesehen ist momentan ein Präsident an der Macht, von dem sie wohl keine weitere Begnadigung erwarten kann.
5.5/6 bzw. 9/10
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