Die Vorwürfe sind fürchterlich und sie sind leider auch nicht neu. Egal ob kirchliche oder private Unterbringung, immer wieder werden Missbrauch von Heimkindern und Fälle von Gewalt öffentlich. Aktuell ist die miserable Unterbringung von Flüchtlingen in der Debatte. Der neue Film von Christian Frosch erzählt von den Erziehungsanstalten Ende der 60er Jahre in der damaligen Bundesrepublik und zeigt in drastischen Bildern das Ende einer großen Liebe. 1968 verlieben sich Martin (Anton Spieker) und Ruby (Victoria Schulz), die eigentlich Rosemarie heißt. Sie lieben Beatmusik und pfeifen auf alle gesellschaftlichen Konventionen. Beide haben große Pläne für eine gemeinsame Zukunft. Martin möchte Schriftsteller werden, Ruby Sängerin. Doch die Beziehung muss geheim gehalten werden. Rubys Eltern sind strenggläubig und Rubys Vater (Ben Becker) versucht alles um seine Tochter wieder „zur Vernunft zu bringen“. Als sich die Dinge zuspitzen, entschließen sich Martin und Ruby zu einem radikalen Schritt: Sie brennen durch. Doch kurz darauf werden sie getrennt. Ruby kommt in das geschlossene katholische Heim der „Barmherzigen Schwestern“ und Martin wird im Erziehungsheim der Diakonie in Freistatt eingeliefert. Für beide beginnt eine Odyssee der Schikane und Gewalt. Als sich Martin und Ruby 1977 wieder treffen, scheint alles wieder zu sein wie früher, doch schnell wird klar, die Wunden der Vergangenheit sind noch nicht geheilt.
Der Exorzismus von Romeo und Julia
Passend zur damaligen Auffassung von Zucht und Ordnung leitet der Titel „Wir„, im Original von Freddy Quinn gesungen, in den Film. „Wer hat den Mut, für euch sich zu schämen? Wir! Wer lässt sich unsere Zukunft nicht nehmen? Wir!“ heißt es im Liedtext, der als Protestsong gegen die angeblich verwahrloste deutsche Jugend gedacht war. Unter Verwahrlosung fiel für den braven Bürger beispielsweise das Tragen von kurzen Röcken und das Hören von Beatmusik. Zudem galt auch langes Haar bei Männern als ungepflegt. Doch Ruby und Martin scheren sich beide nicht um Konventionen und finden Wege ihre Beziehung aufrechtzuerhalten. Ruby steigt nachts heimlich aus dem Fenster und Martin hat für seine Frisur eine passende Begründung: „Jesus hatte auch lange Haare“. Das erzkonservative und religiöse Bürgertum, das besonders eindringlich und schockierend von Ben Becker als Rubys Vater repräsentiert wird, möchte die rebellische Jugend unter Kontrolle bringen. Dies geschieht häufig durch körperliche Züchtigung oder Erniedrigung, was häufig auch zusammenfällt, wenn beispielsweise Rubys Vater mit einer Taschenlampe bewaffnet ihre Beine auseinanderdrückt um festzustellen, ob sie noch Jungfrau ist. Das ist nicht schön anzusehen, muss aber sein.
System der Angst
Die Sympathieträger Ruby und Martin landen schließlich in Besserungsanstalten. Durch schwere Arbeit und Züchtigung sollen ihnen die teuflischen Dämonen ausgetrieben werden. Dabei wird auch die Legitimation der Taten durch religiöse Regeln behandelt. Interessant ist, dass hier auch die Aufseher sich untereinander korrigieren. Sie sei zu weich geworden, wird einer Nonne von der Mutter Oberin vorgeworfen. Sichtbar wird dadurch ein System der Angst. Christian Frosch, der sowohl das Drehbuch schrieb als auch Regie führte, legt einen starken Fokus auf die Mimik seiner Darsteller. Die Kamera ist stets mit im Getümmel, als würde der Zuschauer direkt dabei sein. Die Gedanken und Wünsche der beiden Hauptprotagonisten werden durch gelegentliches Voice-Over artikuliert. Während das Jahr 1968 im Film in schwarz-weiß zu sehen ist, ist das Jahr 1977 bunt und schrill. Im letzten Drittel des Films, der die Zeit zwischen 1968 und 1977 erzählt, springt der Film immer wieder in die schwarz-weiße Vergangenheit zurück, was für den Zuschauer etwas verwirrend ist, was die zeitliche Abfolge angeht. Hier wird sowohl mit Einblendungen als auch mit Voice-Over gearbeitet. Ist der Film zu Beginn noch weitesgehend chronologisch, so wird er gegen Ende eine Melange aus Gegenwart und Vergangenheit, ein Puzzle aus aktueller Lage und alten Geistern, dass an manchen Stellen nicht so ganz passen mag.
Packt (5/6)
Trailer: © Salzgeber & Company Medien