Der Wal ist in der Literatur oft ein Symbol für das Monumentale, das Geheimnisvolle, manchmal auch für die zerstörerische Kraft der Natur. In Darren Aronofskys Film THE WHALE wird er zur Metapher für einen Mann, der in seinem eigenen Körper gefangen ist. Der Film, basierend auf dem gleichnamigen Theaterstück von Samuel D. Hunter, verwandelt eine kleine Wohnung in einen Mikrokosmos menschlicher Verzweiflung und erzählt dabei von der Möglichkeit der Erlösung. Charlie (Brendan Fraser) ist ein Online-Englischlehrer, der sein Haus seit Jahren nicht mehr verlassen hat. Sein extremes Übergewicht macht ihm jede Bewegung zur Qual. Seine einzige regelmäßige Besucherin ist eine Krankenschwester, seine Freundin Liz (Hong Chau), die sich um seinen gesundheitlichen Zustand sorgt. Als Charlie erfährt, dass er nur noch wenige Tage zu leben hat, nimmt er Kontakt zu seiner Tochter Ellie (Sadie Sink) auf. Doch sie nimmt ihm immer noch übel, dass er damals die Familie zugunsten einer anderen Liebe verlassen hat. In Charlies letzte Tage platzen zudem seine Ex-Frau Mary (Samantha Morton) und der junge Missionar Thomas (Ty Simpkins).
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Die Verwandlung des Brendan Fraser
Brendan Fraser liefert in THE WHALE in der Rolle des Charlie eine schauspielerische Tour de Force ab, die zu Recht mit dem Oscar als bester Hauptdarsteller gewürdigt wurde. Seine Darstellung stach in einem außergewöhnlich starken Kino-Jahrgang 2022 heraus, in dem er sich gegen beeindruckende Leistungen von Austin Butler in ELVIS und Colin Farrell in THE BANSHEES OF INISHERIN durchsetzen konnte. Unterstützt wird seine beeindruckende Darstellung durch die ebenfalls Oscar-prämierte Maskenbildarbeit von Adrien Morot, Judy Chin und Annemarie Bradley-Sherron, die Frasers physische Transformation überzeugend gestaltet haben. Obwohl die meisten Zuschauer im Alltag kaum mit Menschen mit solch extremem Übergewicht in Berührung kommen, gelingt es Fraser, eine tiefe emotionale Verbindung zum Publikum aufzubauen. Man empfindet nicht Abscheu oder Sensationslust angesichts seines Zustands, sondern aufrichtiges Mitgefühl für einen Menschen, der sich in seinem eigenen Körper verloren hat.
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Gefangen in der eigenen Haut
Dem Setting merkt man seine Herkunft als Theaterstück an. Alle Szenen spielen entweder in Charlies Haus oder kurz vor der Tür. Diese räumliche Beschränkung erzeugt eine gleichermaßen behagliche wie auch beklemmende Atmosphäre. Besonders verstörend sind die Szenen, in denen Charlie seinen Esszwang auslebt. Die Darstellung seiner Essattacken – wenn er Pizzastücke übereinanderstapelt und sich in den Mund schiebt, Chips auf Toast türmt und alles mit cremigem Aufstrich überzieht – ist schwer zu ertragen. Dennoch gelingt es dem Film diese Momente nicht zum Spektakel verkommen zu lassen, sondern sie als schmerzhafte Symptome einer tiefen seelischen Verletzung zu zeigen. Die Empathie für Charlie überwiegt in jeder Szene. Das gemächliche, aber niemals schleppende Erzähltempo gibt den Emotionen Raum zum Atmen und den Charakteren Zeit zur Entfaltung.
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Vielschichtige Erzählung
Neben Fraser überzeugt vor allem Hong Chau in der Rolle der Liz. Als Krankenschwester und einzige Vertraute Charlies verkörpert sie die schmerzhafte Balance zwischen professioneller Distanz und tiefer persönlicher Zuneigung. Sadie Sink verleiht der rebellischen Tochter Ellie eine verstörende Mischung aus bockiger Ignoranz und unterdrückter Sehnsucht nach väterlicher Nähe. Ihre Szenen mit Fraser gehören zu den emotionalen Höhepunkten des Films. Ty Simpkins rundet als junger Missionar Thomas das hochkarätige Ensemble ab, auch wenn er meistens wie ein Fremdkörper wirkt. Seine Figur des naiven, aber aufrichtigen Gottsuchenden bildet trotzdem einen Wiederspruch zu Charlies tiefgreifender Trauer über verpasste Chancen. THE WHALE ist ein behutsam inszenierter Film über die zerstörerische Kraft von Schuld. Das Zusammenspiel von präziser Regie, überzeugender Maske, authentischem Schauspiel und der intimen Kameraarbeit macht THE WHALE zu einem packenden Filmerlebnis, das lange nachhallt.
THE WHALE ist aktuell kostenlos über die ARD-Mediathek (auch in der englischen Orginalfassung mit deutschen Untertiteln) abrufbar. Stand: 10.02.2025
9.5/10