Man hat es nicht laut gehört, weil ich mich stummgeschalten hatte, aber das erste Wort nach diesem Monolog, war ein fassungsloses „Wow“. Meine zweite Zoom-Theatervorstellung war eine, die schwer zu toppen sein wird. In SUPERSPREADER führt Marcel (Florian Jahr) durch den Abend. Marcel heißt wahrscheinlich gar nicht so, aber er möchte sich so nennen lassen, weil er den Klang des Namens so mag. Auch welchen Beruf er hat, ist nicht ganz klar. Er sagt, er sei Unternehmer, doch wenn er von seinem Arbeitsumfeld erzählt, könnte er auch ein Börsenmakler oder Unternehmensberater sein. Seine Ausführungen sind doppeldeutig und könnten sich sowohl auf die aktuelle Corona-Pandemie als auch auf die Finanzkrisen der letzten 20 Jahre beziehen. Ist er krank? Oder auf der Flucht wie ein gesuchter Ex-Wirecard-Manager? In jedem Fall ein unzuverlässiger Erzähler, dem man nicht jedes Wort glauben sollte.
Volle Aufmerksamkeit
In den ersten fünf bis zehn Minuten von SUPERSPREADER war ich noch zurückhaltend. Marcel oder wie auch immer er heißt, ist ein Unsympath wie er im Buche steht: überheblich, arrogant, angeberisch und extrem selbstverliebt. Warum soll ich mich mit diesem Menschen, der sich offenbar selbst für den Allergrößten hält, beschäftigen? Ich musste an DIE NACHT KURZ VOR DEN WÄLDERN denken. Auch ein Monolog. Auch da bin ich einem unsympathischen Protagonisten hinterhergelaufen. Während der namenlose Protagonist in Basel die unpersönliche Anrede „Kamerad, komm.“ wählte, kann Florian Jahr in seiner Rolle die ZuschauerInnen direkt ansprechen. Wer sich mit Vor- und Zuname in den Zoom-Stream eingewählt hat, wird evtl. persönlich angesprochen. Die Zuschauer sollen applaudieren, sagt Marcel. Er sei ja schließlich ein Superstar. Wer die Kamera anlässt, wird auch von der Gegenseite gesehen. Diese Live-Interaktion, die man wohl selten in einem Theaterstück hat, führt zu einem starken Sog.
Nähe trotz Bildschirm
Durch die Kameraperspektive, die sich das ganze Stück über nicht verändert, kann Florian Jahr selbst steuern, wie nahe er die ZuschauerInnen an sich heranlässt. Oder auch anders herum gedacht, wie sehr er sich den 15 ZuschauerInnen aufdrängt. Es gab Momente, da kam er so nahe an die Kamera, dass ich dachte, im nächsten Moment kommt er durch den Bildschirm. Die Zweideutigkeiten im Text von Albert Ostermaier, der unzuverlässige Erzähler und ein phänomenaler Florian Jahr machen das Stück dicht und spannend. Wer Marcel ist, was seine Agenda ist und warum er überhaupt mit dem Publikum redet, bleiben aber letztlich unklar. Ich habe mir ein Ticket für eine weitere SUPERSPREADER-Vorstellung gekauft. Vielleicht finde ich es ja dann raus.
Die Premiere von SUPERSPREADER fand am 1. Dezember 2020 als Zoom-Vorstellung statt. Seitdem wurden bereits über 15 Vorstellungen aufgeführt. Auf lange Sicht ist auch eine Präsenz-Fassung geplant, wenn das Theater wieder öffnen darf.
Gesehen am 13.02.2021 (15. Vorstellung), 26.02.2021 (17. Vorstellung) und am 04.05.2021 via Zoom.
Solange er nicht Sadako-gleich aus dem Bildschirm kriecht… 😉
Tut er nicht. Aber er haucht die Scheibe an, die vor der Kameralinse angebracht ist. Das wirkt schon ziemlich spooky. 🙂