Mit JUROR #2 ist dem 93-jährigen Regieveteranen Clint Eastwood ein fesselndes Gerichtsdrama gelungen, das die Grenzen zwischen Recht und Moral auslotet. Der Film, der sich auf den ersten Blick in die Tradition klassischer Gerichtsdramen einreiht, entwickelt sich zu einem packenden Thriller über Schuld, Gewissen und die Fehlbarkeit des amerikanischen Rechtssystems. Im Zentrum der Geschichte steht der Autor Justin Kemp (Nicholas Hoult), dessen Leben durch seine Ernennung als Geschworener eine dramatische Wendung nimmt. Seine Frau Allison (Zoey Deutch) ist hochschwanger und erwartet das erste gemeinsame Kind. Justin möchte eigentlich nicht von seiner Frau getrennt sein, kann sich seiner Ernennung als Geschworener aber nicht entziehen. Vor Gericht wird ein grausamer Fall verhandelt. James Sythe (Gabriel Basso) soll seine Freundin Kendall (Francesca Eastwood, die Tochter des Regisseurs) getötet und ihre Leiche in eine Straßenschlucht geworfen haben. Während die ehrgeizige Staatsanwältin Faith Killebrew (Toni Collette) von der Schuld des Angeklagten überzeugt ist, kämpft Pflichtverteidiger Erik Resnick (Chris Messina) verbissen um dessen Unschuld. Doch dann erinnert sich Justin an einen vermeintlichen Zusammenstoß mit einem Reh auf genau jener Straße am Tatabend.
Moralischer Zwiespalt als treibende Kraft
Eastwood inszeniert in JUROR #2 den inneren Konflikt seines Protagonisten mit beeindruckender Präzision. Die zunehmende Verzweiflung Justins, der zwischen seiner Pflicht als Geschworener und seinem Gewissen hin- und hergerissen ist, wird von Nicholas Hoult sehr subtil und trotzdem packend dargestellt. Hoult ist überhaupt eine ganz großartige Besetzung für diese Rolle, weil er von seinem Aussehen bis hin zur ganzen Attitüde wunderbar in das → Jedermann-Trope passt. Eben weil Hoult wahnsinnig sympathisch wirkt und das Handeln seiner Figur – und auch die Motivation der anderen Figuren – nachvollziehbar ist, fordert der Film sein Publikum kontinuierlich heraus, die eigenen moralischen Maßstäbe zu hinterfragen. Immer wieder stellt er auch die Frage: Was würde ich in dieser Lage tun? Mit scharfem Blick entlarvt Eastwood dabei auch die Schwächen des amerikanischen Justizsystems. Gleichermaßen kritisiert er aber nicht den Prozess an sich. Die Darstellung der Geschworenen, die zwischen persönlichen Verpflichtungen und ihrer staatsbürgerlichen Verantwortung balancieren, wirkt authentisch.
Der unsichtbare Antagonist
Eine besondere Qualität gewinnt JUROR #2 auch durch die geschickte Verwebung zeitlicher Zwänge, die auf die Charaktere einwirken. Justin Kemp sieht sich mit der unmittelbar bevorstehenden Geburt seines Kindes konfrontiert und möchte vor der Geburt seines Kindes ein Urteil gefunden haben. Seine Mitgeschworenen drängen auf eine schnelle Entscheidung, getrieben von beruflichen und familiären Verpflichtungen. Sie wollen einfach nur nachhause zu ihren Familien und sind deshalb auch leicht von einem Schuldspruch zu begeistern. Die Staatsanwältin Killebrew möchte den Fall für ihren Wahlkampf instrumentalisieren, der natürlich auch in einem zeitlichen Rahmen stattfindet. Diese Dynamik spiegelt ein grundsätzliches Problem des Rechtssystems wider: Gerechtigkeit braucht Zeit – Zeit, die im Rechtssystem oft nicht vorgesehen ist. Eastwood zeigt eindrücklich, wie dieser Zeitdruck die Urteilsfindung beeinflusst und möglicherweise verfälschen kann.
Klassisches Gerichtsdrama
Die visuelle Gestaltung des Films verzichtet weitgehend auf innovative Elemente und bedient sich stattdessen einer klassischen Bildsprache. Die kennt man aus anderen Gerichtsdramen wie etwa DIE ZWÖLF GESCHWORENEN. Die Spannung bleibt in den ersten zwei Dritteln – nicht zuletzt auch durch interessante Nebenfiguren – durchgehend erhalten. Unter den Nebenfiguren sticht besonders der Mitgeschworene Harold (J.K. Simmons) heraus, von dem man zunächst denkt, er sei nur Rentner. Im Laufe der Verhandlung entpuppt sich dieser als ehemaliger Polizist, was dessen Rolle in der Gruppe und die Gruppendynamik innerhalb der Jury verändert. Im letzten Drittel verliert der Film durch Längen, die den authentischen Abläufen in Gerichtsverfahren geschuldet sind, etwas an Dynamik. Die letzte Szene des Films macht dieses Geduldsspiel allerdings wieder wett. JUROR #2 erweist sich als vielschichtiges Drama über die Komplexität moralischer Entscheidungen. Eastwood gelingt es, die Zuschauer emotional zu involvieren und gleichzeitig zum Nachdenken über die Funktionsweise des Rechtssystems anzuregen.
JUROR #2 soll im Frühjahr 2025 seinen Heimkinostart bekommen. Ein genauer Termin steht noch nicht fest. (Stand: 04.02.2025)
8/10