Die Unerhörten und ich hatten einen schweren Start. Die Tickets für den ersten Abend mussten wegen „Erkrankung im Ensemble“ umgebucht werden. Beim zweiten Versuch gab es zwei kurzfristige Absagen meiner zwei Begleitpersonen wegen Corona oder Post-Corona-Panik. Glücklicherweise haben ich noch zwei spontane Mitstreiterinnen gefunden. In Elsa-Sophie Jachs Inszenierung mit dem Beinamen „Technoide Liebesbriefe für antike Heldinnen“ werden Textfragmente mit Livemusik von Slatec verbunden um den großen antiken Frauenfiguren der Antike zu huldigen: Echo, Medea, Kassandra, Medusa, Philomela und Penelope. Alle wurden zum Schweigen gebracht, mittels Gewalt, Ächtung, Verbannung oder Verleumdung.
Die Unerhörten oder: Wer erzählt die Geschichte?
Sonderlich beeindruckt oder begeistert waren wir drei von dem Abend alle nicht. Vielleicht war meine Erwartungshaltung nach der langen Wartezeit zu groß. Dabei ist die Grundprämisse ja eigentlich interessant. Sie lässt sich auf die Frage herunterbrechen: Wer erzählt die Geschichte? In der Antike haben immer männliche Geschichtenerzähler die Deutungshoheit über die Frauenfiguren bestimmt und niemand hat das hinterfragt. In DIE UNERHÖRTEN emanzipieren sich diese Figuren von ihren Erzählungen und erzählen aus der Ich-Perspektive, was ihnen widerfahren ist, aber auch, was es mit ihnen macht, immer wieder als tragische Gallionsfigur herhalten zu müssen. Im Programmheft habe ich ein Zitat gefunden, dass es sehr gut auf den Punkt bringt: „Wir haben längst die Kontrolle verloren über diese Geschichten. Diese Geschichten haben noch lange nicht die Kontrolle verloren über uns.“ (Enis Maci – „Bataillon“)
Verworren und kryptisch
Auch wenn man von der ein oder anderen antike Geschichte schon einmal gehört hat, ist es wirklich schwierig den einzelnen Geschichten zu folgen. Ich habe grundsätzliche eine Abneigung gegenüber Stücken, bei denen man vorher erstmal eine Einführung braucht oder das Programmheft durchlesen muss. Es wird zwar immer ein bißchen erklärt, welches Unrecht der Frauenfigur widerfahren ist, trotzdem fühlt sich die ganze Inszenierung sehr oberflächlich an, was insbesondere auch an der Sprache liegt. DIE UNERHÖRTEN fühlt sich sehr kryptisch und verworren an. Auch die Verschwesterung der Frauenfiguren wirkt zu konstruiert. Ob es den quietschpinken Brunnen in der Bühnenmitte wirklich gebraucht hat, sei auch mal dahingestellt. Zur musikalische Umrahmung habe ich ebenfalls ein ambivalentes Verhältnis. Auch wenn die Musik der Technoband Slatec definitiv zum Tanzen einlädt und gute Laune verbreitet, ist auf den Zuschauerrängen im Marstall bei Vollbesetzung allenfalls Stehtanz möglich, was wiederum schlechte Laune macht.
Bezug zum heute
Der letzte Liebesbrief geht nicht an eine antike Frauenfigur, sondern an Nevin Yildirim, die 2012 ihren Vergewaltiger erschossen hat. Das Beispiel zeigt, dass es auch noch in der Jetztzeit genügend Geschichten von Frauen gibt, deren Ehre mit Füßen getreten wird. Dass die Frage der Deutungshoheit gerade in der heutigen Zeit, die stark von (sozialen) Medien geprägt ist, von Bedeutung ist, wird niemand leugnen. Es gibt immer einen Bösen und einen Guten. Die Grautöne gibt es medial nicht. Auch wenn ich komplett die Prämisse des Stücks nachvollziehen kann und auch wichtig finde, finde ich die Umsetzung nicht besonders gelungen.
5.5/10
Gesehen am 26. April 2022 im Marstall