Es ist dreiviertelelf, als ich die Wohnungstür aufschließe und mich noch schnell an den Laptop setze. Nachdem ich LAND gesehen habe, habe ich nur ein Wort herausbekommen. Ein “Danke” zur Garderoberin, die mir meinen Mantel nach der Vorstellung überreicht. Aber mehr geht grade nicht. Normalerweise hätte ich an diesem Punkt auch schon eine Wertung im Kopf. Eine Pro-Kontra-Liste. Eine Zahl, die den Abend in irgendeiner Form zusammenfasst, aber mir fällt keine ein. LAND, ein Auftragswerk der Münchner Kammerspiele, handelt von der Landwirtschaft in drei Zeitebenen. 2024 möchte die Mikrobiologin Fritzi (Marie Bonnet) den Hof ihrer Mutter übernehmen um ein Saatgut zu entwickeln, das dem Klimawandel standhalten kann. In dieses Setting schiebt sich die Zeitebene von 1816. Ein Jahr, das durch eine extreme Hungersnot geprägt ist. Drei Geschwisterkinder beten immer wieder zu Gott, er möge sie erhören und ihnen Essen zukommen lassen. Doch dann mischt sich auch noch das Jahr 1973 ins Geschehen ein. Das Jahr der Ölkrise fordert die Familie von Fritzis Großeltern in besonderem Maße heraus.

Sehnsuchtsort Großstadt
In der Einführung zum Stück habe ich erfahren, dass der Autor Lothar Kittstein keine Verbindungen in die Landwirtschaft hat. „Aha“, denke ich mir, „hier wird mal wieder über die Leute geredet, aber nicht mit ihnen. Das kann ja was werden.“ Der Grund für meine Skepsis: Ich bin Bauernhofkind. Ich kenne das Landleben. Die Strukturen. Die Diskussionen, wer denn am Ende mal den Hof übernehmen wird. In meinem Fall, mein jüngerer Bruder. Er ist gelernter Landwirt und wird bald auch ausgebildeter Müller sein. Er kauft regelmäßig Land, erzählt von Notarterminen, von der Unwissenheit, dass viele nicht so richtig wüssten, was man für ein Stückchen Land überhaupt verlangen kann. Besonders nicht die Münchner, die mit völlig überzogenen Preisvorstellungen daherkämen. Ich wüsste auch nicht, was ein Hektar kostet. Einen Bezug zum Landkauf oder der Pacht habe ich nicht. Ich bin diejenige, die laut Bauerntochter Ulrike (Maren Solty) den Traum lebt. Weg vom Dorf, weg vom Hof, in der Landeshauptstadt „Bayern ist die Vorstufe zum Paradies“ München. Auch in LAND wird München, die Großstadt, als Sehnsuchts- und Zufluchtsort inszeniert.

Auf dem Land spricht man neuerdings Hochdeutsch
Die Szenen mit den betenden Kindern, die den Herrngott um das Ende der Hungersnot anflehen, wirken wie ein Fremdkörper im Stück. Gleiches gilt für die Erzählerfigur „das Universum“, die später zum Onkel Georg wird und schließlich zur „letzten Sau“, die Hermann schlachtet. Hier war mir nicht klar, warum die überhaupt auftauchen und was hier eigentlich die Aussage war. Was mir allerdings am meisten Probleme bereitet und direkt negativ aufgefallen ist, ist das, was ich gemeinhin „Bühnendeutsch“ nenne. Gestochene, akkurat und sauber aufgesagte Sprache. Wenn etwa Ulrike (Maren Solty), die den Hof nicht übernehmen möchte, ihren Vater nicht mit „Vadda“ oder „Papa“, sondern mit „Fa-ter“ anspricht, stellen sich mir sämtliche Nackenhaare auf. Es ist, als würde man einen derben, niederbayerischen Bauernwitz durch einen Hochschulprofessor für Linguistik vortragen lassen. Der Witz ist zwar grammatikalisch einwandfrei, in perfekter Ausdrucksweise und mit korrekter Betonung und doch klingt er irgendwie falsch. Diese Irritation konnte ich bis zum Ende nicht überwinden.

Realität des Landlebens
Was das Stück dennoch aber ganz gut hinbekommt, ist die Darstellung der Landbevölkerung als eigenen Menschenschlag. Die Abhängigkeit vom Wetter zwingt die Bauern zur Flexibilität. Der krumme und schmerzende Rücken hält weder Bauer Hermann noch seine Mutter Marthe (großartig: Traute Hoess) davon ab, pflichtbewusst weiterzuarbeiten. Diese Beharrlichkeit verkörpert Martin Weigel außerordentlich gut. Stoisch trägt er ein überdimensionales Rohr minutenlang über die Bühne. Und – so wird sich herausstellen – selbst das ist nicht genug. LAND betont immer wieder auch die Grenzen des Wachstums, die sich bei der Bewirtschaftung von Feldern und der Nahrungsmittelerzeugung ergeben. Es zeigt, wie der steigende Druck, selbst die hartgesottensten Bauern in die Knie zwingen kann. Es ist eine Geschichte von leeren Versprechungen. Immer wieder ist Hoffnung da. Wenn-Dann-Hoffnungen. Wenn man sich nur den neuen Bulldog der Marke Fendt kauft, dann wird alles besser. Wenn man doppelt so viele Kühe hält, dann wird der Hof rentabel werden. Man muss größer werden, damit sich der Aufwand noch rechnet.

Ein pessimistischer Blick
LAND endet pessimistisch. Ulrike, die mit Idealismus schließlich doch den Hof übernehmen und „alles anders“ machen möchte, endet als Säuferin. Der pflichtbewusste Bauer Hermann sagt über seine Arbeit: „Das Ende war schon oft. Man muss nur schneller laufen als das Ende. Man muss schneller auf dem Traktor fahren als das Ende.“ Er nimmt sich schließlich das Leben. Das mag für Laien zu dramatisch wirken, spiegelt aber eine traurige Realität wider. Landwirte leiden tatsächlich häufiger als andere Berufsgruppen an Stress, Depressionen und Angstzuständen. Die Suizidrate ist überdurchschnittlich hoch. Ich kenne nicht viele Theaterstücke, die sich inhaltlich mit der Landbevölkerung beschäftigen oder das Thema Landwirtschaft in den Mittelpunkt stellen. Lothar Kittstein wagt sich an ein Thema, das selten den Weg auf Bühnen findet. Und das rechne ich den Beteiligten auch hoch an, weil: representation matters! Und trotzdem stelle ich mir die Frage, ob man die Thematik nicht anders hätte aufbereiten sollen. Näher an den Menschen. Vielleicht mit O-Tönen wie bei NICHT (MÜTTER). Irgendwie beschäftigt mich das Stück, was grundsätzlich ein gutes Zeichen ist, aber dann sind da auch wieder viel zu viele Fragezeichen.
Gesehen am 31. März 2025 in der Therese-Giehse-Halle / Kammerspiele München.
7/10