Im Kafka-Jahr 2024 anlässlich des 100. Todestags von Franz Kafka, der am 3. Juni 1924 verstarb, wagt sich das Residenztheater an DAS SCHLOSS. Ich habe noch nicht so viele Berührungspunkte mit Kafka, daher war ich ganz gespannt. Im Zentrum der Geschichte steht der Protagonist K., der in ein Dorf kommt, das von einem mysteriösen Schloss beherrscht wird. K. bekommt gesagt, dass er als Landvermesser vom Schloss beauftragt wurde, doch seine Versuche, Zugang zum Schloss zu erlangen oder mit seinen Vorgesetzten in Kontakt zu treten, scheitern immer wieder. Die Dorfbewohner zeigen sich ihm gegenüber ambivalent. Einige sind freundlich und versuchen K. zu helfen, während andere ihm gegenüber feindselig oder gleichgültig sind. K. findet sich schließlich in einem Irrgarten aus Bürokratie und Unverständlichkeit wieder, in dem K.s Bemühungen, seine Position und Funktion innerhalb der Gemeinschaft und im Verhältnis zum Schloss zu klären, fruchtlos bleiben.
Das Schloss, die Bühne, ein Labyrinth
Das Schloss ist in dieser Fassung ein unheilbarer doppelter Wolkenkratzer in der Ferne. Thilo Reuthers düster gehaltenes Bühnenbild entführt das Publikum sofort in eine visuell atemberaubende Welt, die die perfekte Kulisse für Kafkas labyrinthische Erzählung bildet. Türen sind mal verschlossen und führen plötzlich in völlig andere Räume. Und wenn es K. dann tatsächlich mal durch eine Tür schafft, dann taucht er auf der anderen Seite als anderer Schauspieler auf. Passend dazu ist auch der mystische Live-Gesang der Sängerin Polina Lapkovskaja (Pollyester), der von Beginn an eine unheilvolle Stimmung schafft. Die Kostüme von Katrin Wolfermann helfen dem Publikum bei der Orientierung, denn Regisseurin Karin Henkel hat sich einen grandiosen Kniff für diese Inszenierung überlegt.
(Fast) alle spielen die Hauptrolle
Ein Highlight der Inszenierung von Karin Henkel ist die Entscheidung, dass alle Rollen von fast allen Schauspielerinnen und Schauspielern gespielt werden. So ist fast jeder einmal K. und jeder einmal ein Dorfbewohner. Diese unkonventionelle Herangehensweise verstärkt das Gefühl der Verwirrung und Paradoxie, das so charakteristisch für Kafkas Werke ist. Daher sind auch die Kostüme wahnsinnig wichtig, damit man die Rollen auch gut auseinander halten kann. Wer „nicht gut mit Gesichtern und Namen ist“ und Angst hat, durcheinander zu kommen, den kann ich beruhigen. Das bin ich auch nicht, und kam sehr gut mit der Struktur klar. So bleibt auch die Handlung immer spannend, weil man sich mit jedem Szenenwechsel neu orientieren muss. Einzig gegen Ende nutzt sich dieses System ein bißchen ab. Hier hätte man etwas früher auf den Punkt kommen können.
Wir sind K.
Durch die Entscheidung die Rollen an mehrere Schauspielerinnen und Schauspieler zu geben einschließlich Genderswapes wird auch die Idee der Austauschbarkeit der Identität thematisiert. Oder anders ausgedrückt: Jeder ist K. Auch wir, die wir im Publikum sitzen. Wir werden wie K. in eine unbekannte Welt geworfen (geboren), irgendjemand erzählt uns, wer wir sind und wie wir uns zu verhalten haben (Eltern, Schule, soziales Umfeld) und sollen schließlich in dieser Welt zurechtkommen. Oder eben nicht. K. verkörpert ein Gefühl, in einem System gefangen zu sein, das ihn definiert ohne dass er je vollständigen Zugang oder Verständnis dafür erlangen kann. Eine Geschichte über Ohnmacht. Eine sehr unterhaltsame Geschichte.
Gesehen am 16.02.2024 am Residenztheater München. An diesem Abend sprang Lukas Rüppel für den erkrankten Florian von Manteuffel ein.
9/10