Wenn mir ein Theaterstück schon über 6 Stunden meiner Lebenszeit stiehlt, dann sollte es wenigstens ein Gutes sein. DAS VERMÄCHTNIS ist glücklicherweise eines dieser Sorte. Ich war ein bißchen skeptisch, weil es thematisch schon sehr an ANGELS IN AMERICA erinnert und mich die Adaption vom National Theatre in London nicht durchweg gefesselt hat. DAS VERMÄCHTNIS beginnt zeitlich in New York City in den letzten Monaten der Obama-Präsidentschaft. Der Autor Toby Darling (Moritz Treuenfels) fiebert der Premiere seines Theaterstücks entgegen. Währenddessen verbringt sein Partner Eric Glass (Thiemo Strutzenberger) Zeit mit seinem Bekannten Walter (Michael Goldberg). Eric erfährt von der AIDS-Epidemie, die er als schwuler Mann Anfang dreißig nur vom Hörensagen kennt. Walter erzählt von einem alten Landhaus, in dem er damals AIDS-Kranke bei ihrem Sterben begleitet hat und dass dies die Trennung von seinem Partner Henry Wilcox (Oliver Stokowski) zur Folge hatte. Im Herbst 2016 verfolgt Eric und sein Freundeskreis schließlich fassungslos die Wahlniederlage Hillary Clintons. Plötzlich scheinen Freiheiten, für die vorangegangene Generation von Aktivistinnen und Aktivisten gekämpft haben, nicht mehr selbstverständlich.
Binge-Watching im Theater
In irgendeiner Kritik zum Stück habe ich gelesen, dass DAS VERMÄCHTNIS Lust auf „Binge watching“ mache. Eine eher ungewöhnliche Formulierung, schließlich ist der Begriff mit Serien und Streamingangeboten verbunden. Und tatsächlich war auch meine größte Sorge die Pause. Also die lange Pause zwischen Donnerstag- und Freitagabend. Ich war mir nicht sicher, ob man gleich wieder in der Geschichte drin ist, aber das gelingt ausgesprochen gut. Keine fünf Minuten hat es gedauert. Wie bei einer Lieblingsserie. Und zu gucken gibt es auch viel. Das liegt in erster Linie am fantastischen Bühnenbild von Philipp Stölzl, der auch Regie führte. Auch wenn mir die Optik ja gar nicht so wichtig ist, muss ich doch sagen, dass ich noch nie einen hübscheren Bühnenbaum gesehen habe. Im Vergleich zum spartanischen Bühnenbild der Young-Vic-Version aus dem März 2018 und der Broadway-Version aus dem November 2019 kommt die Münchner Inszenierung schon vergleichsweise opulent daher.
Berührende Geschichte
Im Gegensatz zu → meiner Theaterbegleitung hatte ich zu dem Stück absolut kein Vorwissen. Das Stück des amerikanischen Autors Matthew Lopez gewinnt – überall, wo es gespielt wird – zahlreiche Theaterpreise. Und das zurecht. Es ist der Wahnsinn wie mühelos die vielen Themen in diesem Stück verhandelt werden. Lopez übernimmt Motive aus E. M. Forsters 1910 erschienenem Roman HOWARDS END und transportiert diese in die 2010er Jahre nach New York. DAS VERMÄCHTNIS ist ein Beziehungs- und Gesellschaftsdrama, gleichermaßen tragisch wie komisch. Auch wenn man selbst nicht zur schwulen Community gehört, berührt die Geschichte sehr. Allein schon der Moment, in dem der Freundeskreis mit Amerikaflaggen behängt vor dem Fernseher sitzt um Hillary Clintons Wahlsieg zu feiern und zu wissen, dass stattdessen ein homophober, orangefarbener Milliardär mit Twitter-Fetisch gewinnen wird, ist traurig. Lopez‘ Geschichte behandelt aber nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit. Schwule Autoren, die ihre sexuelle Orientierung geheim hielten, politisch Aktive, an AIDS Verstorbene und Eltern, die ihre Kinder aufgrund ihrer sexuellen Orientierung verstießen – alle kommen vor.
Act it out
DAS VERMÄCHTNIS geizt darum nicht an Figuren. Fast ausnahmslos dürfen die Schauspielenden gleich mehrere Rollen spielen. Dass dieses Stück mit Sicherheit auch für einige Beteiligte ein ganz persönliches, wichtiges Thema ist, merkt man auch an der Besetzung. Gleich mehrere Unterzeichner des → Actout-Manifests sind mit dabei. Vereinzelt geraten Momente aber zu sehr ins Kitschige. Wenn etwa Eric in das alte Haus von Walter kommt und von den an AIDS Verstorbenen begrüßt und umarmt wird, dann wirkt es etwas zu gewollt. Kleinere Abzüge in der B-Note gibt’s auch für Teil 2. Allerdings weniger aufgrund des Inhalts, sondern schlichtweg, weil das Ensemble am Freitagabend etwas unkonzentrierter wirkte, einschließlich eines Texthängers. Nichtsdestotrotz würde ich mir das Stück jederzeit noch einmal anschauen.
9/10
Gesehen am 17. (Teil 1) und 18.03.2022 (Teil 2) im Residenztheater München, in Vertretung für Vincent Glander und Patrick Bimazubute übernahmen Johannes Nussbaum und Benito Bause ihre Rollen sowie am 27.06.2022 (Teil1+2) mit Michael Wächter in Vertretung für Simon Zagermann.
1 thoughts on “Das Vermächtnis (2022)”