Dass in London viel Shakespeare gespielt wird, ist keine Überraschung. Dass es allerdings auch mal ein Dürrenmatt-Stück in London zu sehen gibt, ist doch eher ungewöhnlich. Autor Tony Kushner verlegte die Handlung nicht nach Güllen, sondern ins amerikanische Örtchen Slurry (engl. für Gülle, Schlamm). In der völlig verarmten Kleinstadt taucht die Milliardärin Claire Zachanassian (Lesley Manville) mitsamt ihrem Gefolge auf. Claire hatte ihre Kindheit und Jugend in dem Ort verbracht. Die Einwohner erhoffen sich von der reichen Frau finanzielle Zuwendungen und Investitionen. Zachanassian sichert der Gemeinde auch tatsächlich mehrere Millionen zu, an die allerdings eine Bedingung geknüpft ist. Sie fordert im Gegenzug den Tod von Alfred Ill (Hugo Weaving), mit dem sie eine gemeinsame Vergangenheit verbindet. Als Claire im Alter von 17 Jahren vom damals 19-jährigen Alfred schwanger wurde, leugnete der die Vaterschaft und bestach Zeugen in einem von Claire angestrengten Prozess, den sie deshalb verlor.
Zu lang?
Tony Kushner mag’s gerne lang. Und auch THE VISIT ist mit dreieinhalb Stunden Laufzeit schon überdurchschnittlich lang. Es gibt zwar auch zwei Pausen, doch die hätte es meiner Meinung nach gar nicht gebraucht. Den zweiten und dritten Akt hätte man durchaus zusammenlegen können, denn so richtig kommt die Geschichte erst nach der ersten Pause in Gang. Das Bühnenbild von Vicki Mortimer (z.B. FOLLIES, OTHELLO) ist abermals großartig. Ich finde es ja immer wieder faszinierend wie viel Möbel, Requisiten und generell Kleinteiliges den Weg auf Londoner Bühnen findet, besonders, wenn man die zumeist spartanischen deutschen Bühnenbilder als Referenz kennt. Besonders gefiel mir neben dem Bahnsteig-Set auch der Wald, der in einer Drehbewegung aus dem Boden emporstieg. Wirklich begeistert hat mich auch die live eingespielte Jazzmusik. Sie passt perfekt zur Dramatik auf der Bühne. Ist mal relaxt und entspannt, mal treibend und wuchtig.
Korrupte Rechtssprechung
Dürrenmatts „tragische Komödie“ hat bekanntermaßen kein Happy End. Kushner gelingt es mit seinem Text gut herauszuarbeiten, wie sehr sich Menschen abhängig machen und bereit sind ihre Ideale wortwörtlich zu verkaufen, wenn der Preis nur hoch genug ist. Was kostet ein Menschenleben? Und was kostet Gerechtigkeit? Ich musste während dem Stück auch an reiche Mandanten denken, die durch teure Anwälte zu ihrem Recht kommen. Hier ist es sogar noch krasser, denn der Vorschlag von Zachanassian umgeht staatliche Institutionen wie Gerichte oder Polizei komplett. Auch die Frage, ob Rache wirklich glücklich macht, findet sich in der sehr dichten Vorlage, der Kushner ab und an etwas zu sehr den Wind aus den Segeln nimmt.
Schauspielerisch herausragend
Es gibt diese Liste in meinem Kopf, mit Schauspielern, die ich gerne mal live sehen möchte. Lesley Manville steht seit ihrer grandiosen Leistung in PHANTOM THREADdarauf. Auch aus diesem Grund war THE VISIT für mich ein Pflichttermin. Enttäuscht wurde ich nicht; ganz im Gegenteil. Das Charisma von Manville ist unbestritten. Sie schafft es die Widersprüchlichkeiten aus der Figur gut herauszukitzeln. Diese Mischung aus liebevoller Ex-Geliebten und verbittertem Racheengel macht sie und damit auch ihre Rolle wahnsinnig interessant. Vor Hugo Weaving habe ich eigentlich meistens Angst. Das liegt natürlich an den Rollen (zuletzt wieder bösartig in PATRICK MELROSE). Umso erstaunter war ich, dass ich in THE VISIT wirklich großes Mitleid mit seiner Rolle hatte. Als Weaving dann am Ende in einen Sarg gelegt und von Claires Entourage ins Scheinwerferlicht getragen wurde, war ich seltsam berührt.
Gesehen am 5. März 2020 im Olivier Theatre im National Theatre in London
Trailer: © National Theatre
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