Über Wirecard ist wahrscheinlich schon alles gesagt, was es zu sagen gibt. Es gab Stellungnahmen von Ministerien, Dokumentationen und Podcasts und aktuell immer noch einen laufenden Gerichtsprozess, die den ganzen Fall rund um den ehemaligen Finanzdienstleister Wirecard und den flüchtigen Ex-Geschäftsführer Jan Marsalek thematisieren. Aber braucht es da auch noch ein Theaterstück über den Zusammenbruch des Münchner FinTech-Unternehmens? Die Antwort ist ein klares Ja, denn Regisseur Łukasz Twarkowski hat sich dem Thema über den Begriff der „Simulation“ angenähert. WOW – WORD ON WIRECARD verwebt drei Zeitebenen miteinander: die Wirecard-Geschichte als menschengemachte Simulation, ein fiktives Institut für Kybernetik und Zukunftsforschung in München sowie der Filmdreh zu Rainer Maria Fassbinders Sci-Fi-Film WELT AM DRAHT. Zwischen diesen Welten wandelt Hauptfigur Hal Stiller (Elias Krischke), der mal reiner Zuschauer ist, mal aktiv ins Geschehen eingreift. Dabei nutzt Twarkowski die Geschichte des Finanzdienstleisters vor allem als Ausgangspunkt für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Konzept der Simulation. Die Simulation Wirecard, so eine These des Stücks, habe ihre eigene Simulation erschaffen.
Technische Meisterklasse
Das Bühnenbild von Fabien Lédé ist horizontal geteilt. Während unten das Live-Geschehen stattfindet, werden oben teils vorproduzierte, aber auch live mit leichter Verzögerung abgespielte Filmsequenzen und Untertitel eingespielt. Im Bühnenbild laufen daher neben den eigentlichen Hauptfiguren auch mehrere Kameraleute herum. Die Bildregie muss man wirklich lobend herausstellen. Immer wieder saß ich mit offenem Mund davor und habe mich gefragt: wie haben sie das gemacht? Zu Beginn muss man sich mit dieser Zweiteilung erstmal zurecht finden, weil nicht ganz klar ist, wo man jetzt zuerst hinschauen soll. Besonders beeindruckend ist auch eine Szene, in der die gleichen Schauspielenden oben wie unten zu sehen sind. In Zeitlupe bewegen sie sich oben wie unten. Es macht Spaß Unterschiede zu entdecken oder es einfach bemerkenswert zu finden, wie leicht es dem ein oder anderen Spieler fällt die aufgezeichneten Bewegungen zu reproduzieren. Die ohrenbetäubende Musik, für die es am Einlass Ohrstöpsel gibt, starker Einsatz von Nebelschwaden und flackerndem Licht schaffen eine immersive, undurchsichtige Atmosphäre. Die technische Umsetzung ist brillant. Nicht umsonst wurde WORD ON WIRECARD für den Deutschen Theaterpreis DER FAUST in der Kategorie „Ton und Medien“ nominiert.
Die Simulation ist ein zweischneidiges Schwert
Das Thema der Simulation findet sich auch im Wesen des Theaters wieder. Jede Theateraufführung ist letztlich eine Simulation. Eine Ansammlung von stummen Verabredungen, bei denen Menschen so tun, als wären jemand oder etwas anderes als sie selbst. Eine Simulation von Realität, bei der die Worte der Protagonisten wie zufällig geäußert werden, obwohl es einen Text gibt und Proben, an denen dieser Text dann solange geprobt wird, bis er ganz natürlich aus den Mündern der Schauspielerinnen und Schauspieler kommt. Und man versteht auch, warum Twarkowski die Simulation mit Wirecard verbindet. Schließlich war auch Wirecard selbst ein Täuschungsmanöver, eine Art wirtschaftliche Theateraufführung mit globalem Publikum. Doch die permanente Betonung des Simulationscharakters schafft auch eine problematische Distanz zu den realen Schicksalen. Wenn im Stück von 5.800 entlassenen Wirecard-Mitarbeitenden als „Einheiten“ gesprochen wird, deren Gefühle nur „Projektionen“ seien, wird dies der menschlichen Dimension nicht gerecht. Was auf der einen Seite als ein intellektueller – vielleicht auch etwas zu theoretisch geratener – Diskurs über Simulationen inszeniert wird, überdeckt an anderer Stelle die reale, konkrete Erfahrung der Wirecard-Mitarbeitenden.
Schon ein bißchen viel „Style over Substance“
Dieses Spannungsfeld zieht sich durch den gesamten Abend. Während ich einerseits von der technischen Brillanz und dem Thema fasziniert war, bleibt ein leises Unbehagen darüber, dass die realen Opfer des Skandals in dieser Theatersimulation zu bloßen Datenpunkten werden. Mit einer Länge von drei Stunden (mit einer Pause) ist die Inszenierung durchaus fordernd. Zumal auch viele Referenzen wie Fassbinders WELT AM DRAHT referenziert, aber nicht weiter erklärt werden. Dennoch ist WORD ON WIRECARD ein außergewöhnliches Theatererlebnis, das die Grenzen zwischen Film und Theater, zwischen Realität und Simulation auf faszinierende Weise auslotet. Die innovative Raumnutzung – in der Pause darf das Publikum sogar das Bühnenbild betreten – und die handwerklich erstklassige Umsetzung machen die Aufführung zu einem einzigartigen Erlebnis. Auch wenn der eigentliche Wirecard-Skandal dabei manchmal zu sehr in den Hintergrund rückt.
Gesehen am 31. Oktober 2024 in der Therese-Giese-Halle / Kammerspiele München
9/10