In den letzten Jahren scheinen Rucksackgeschichten, die auf realen Erlebnissen basieren, zu boomen. Hape Kerkelings Buch über seine Begehung des Jakobswegs war ein Millionenbestseller. In TRACKS (2013) durchwanderte Mia Wasikowska die australische Wüste. Nun folgt eine Wanderung auf dem Pacific Crest Trail (PCT) an der Westküste entlang von der mexikanischen bis zur kanadischen Grenze. Witherspoon war hier zum vierten Mal als Produzentin tätig. Im Zentrum der Geschichte steht Cheryl Strayed (Reese Witherspoon), die 1995 diesen Weg lief. An einem Wendepunkt in ihrem Leben versucht sie die Reise zur Selbstfindung zu nutzen. Cheryls Leben ist ein Chaos. Ihre Mutter Bobbi (Laura Dern) stirbt an Krebs; ein Trauma von dem sie sich nicht erholen kann. Sie stürzt sich in zwanglose Affären, betrügt ihren Mann Paul (Thomas Sadoski) und wird schwanger. Wer der Vater ist, weiß sie nicht. Das Kind muss weg, Heroin muss her. Cheryl erkennt, dass sie nicht mehr sie selbst ist und beschließt den PCT zu bewandern. Ohne große Ahnung und Wandererfahrung stürzt sich Cheryl ins Abenteuer. Unterwegs trifft sie auf hilfsbereite Menschen und angsteinflößende Männer, die am liebsten über Cheryl herfallen würden. Doch durch diese Reise versteht Cheryl sich besser und findet sich schließlich selbst.
Ich bin dann mal weg…
In der Regel fällt ja der Schnitt bei einem Film nicht besonders auf; außer vielleicht, wenn er schlecht ist. Das ist hier aber nicht der Fall. Gegenwart und Vergangenheit werden zu einer Melange aus Nostalgie, Melancholie, Trauerbewältigung und dem Auseinandersetzen mit verpassten Möglichkeiten zusammengeschnitten. Die Rückblenden, die etwa 35 % des Film ausmachen, sorgen dafür, dass WILD permanent spannend bleibt. Zudem sorgen die fragmentarischen Szenen dafür, das Naturell von Cheryl für den Zuschauer zu erklären. Cheryl Strayed erzählt in ihrem Buch „Wild: From Lost to Found on the Pacific Crest Trail“ bereits im ersten Kapitel ihre Vorgeschichte. Zu Beginn des Films dagegen sieht man einfach nur eine Frau durch die Wildnis stapfen. Man kennt sie nicht, es gibt keine Einleitung, man erfährt nichts über ihre Motivation. Dann folgen Bilder von Erinnerungsfetzen, die zunächst noch keinen Sinn ergeben. Dann wieder wunderschöne Landschaft, wilde Flüsse und stille Seen. Und dann erklären die Rückblenden die Eindrücke des Zuschauers.
Erzählung durch den Rückspiegel
Auf Dauer ist diese Art des Storytellings etwas anstrengend, allerdings wird die Intension der Filmemacher klar, menschliche Gedanken möglichst realistisch, also bruchstückhaft, abzubilden. Auch das Voice-Over von Cheryl sorgt für Empathie mit der Hauptfigur, wenn sie beispielsweise monoton den Satz „Kalter Haferbrei ist lecker“ wiederholt um sich ihr Essen schön zu reden. Unverblümt und selbstironisch kommentiert sie das Geschehen und lässt den Zuschauer an ihren Strapazen, Problemen und Ängsten teilhaben. Der Film glorifiziert auch nicht. Man sieht die Wunden an Füßen und Rücken, den übergroßen Campingrucksack, der bald den Spitznamen „Monster“ bekommt, weil Cheryl ihn beinahe nicht tragen kann. Der Rucksack ist auch eine der filmischen Metaphern. Er steht für die Last der Vergangenheit, die Cheryl mit sich herumträgt. Zudem gibt es auch einen Fuchs, der ihr permanent folgt und von dem man nicht ganz weiß, was er bedeutet.
Entlang des Weges
Unterwegs trifft Cheryl skurrile Figuren, wie den Reporter der „Hobo Times“, der sie für einen weiblichen Landstreicher hält und sich auch nicht vom Gegenteil überzeugen lässt, und die Frau an der Hotelrezeption, die mehrfach betont, das Zimmer koste „18 Dollar, aber mehr, wenn Sie noch jemanden mitbringen“. Unklar bleibt, warum sich Strayed ausgerecht den PCT als Wanderstrecke ausgewählt hat. Die Oscar- und Golden Globe-Nominierungen als beste Hauptdarstellerin für Reese Witherspoon sind zwar gerechtfertigt, allerdings werden sicherlich andere Schauspielerinnen, die eine stärkere Verwandlung hingelegt haben, die Trophäen gewinnen. Aufgrund der ungewöhnlichen Erzählstruktur, der tollen Landschaftsaufnahmen und der überzeugenden Hauptfigur ist der Film wirklich sehenswert.
Bewegende Geschichte, ungewöhnlich umgesetzt (5/6)
Bilder und Trailer: © 2014 Twentieth Century Fox