Erinnert ihr euch noch an CATFISH? Diese MTV-Reality-Show über Online-Dating, bei der nicht selten herauskam, dass der Herzallerliebste einfach nur ein Fake ist und sich gar nicht wirklich für sein Gegenüber interessiert? Die Regisseurin Felicity Morris kredenzt dem geneigten Netflix-Publikum mit THE TINDER SWINDLER jetzt CATFISH 2.0. Denn das Level, auf dem dieser Schwindler agiert, lässt sich am besten als „Next Level Shit“ beschreiben. Alles beginnt ganz harmlos, als Cecilie auf der Dating-Plattform Tinder mit dem gutaussehenden Milliardär Simon Leviev matcht. Beide verstehen sich gut. Es folgt ein Flug in einem Privatjet und eine heiße Nacht. Viel zu spät erkennt sie, dass es sich bei dem angeblichen Geschäftsmann um einen Schwindler handelt, der seinen weiblichen Opfern das Geld aus der Tasche zieht, um sich damit seinen ausschweifenden Lebensstil zu finanzieren.
Von der einen Frau klauen um mit der anderen zu feiern
Obwohl THE TINDER SWINDLER fast zwei Stunden dauert, vergeht die Zeit wie im Flug. Allerdings merkt man der Doku an, dass besonders in der ersten halben Stunde, als Cecilie Fjellhøy ihre Geschichte erzählt, häufig auf gestellte Szenen zurückgegriffen wurde. Dabei sieht man dann einfach nur Herrenschuhe in einer Hotellobby herumlaufen oder einen Dreitagebart in Großaufnahme. Das mag daran liegen, dass es zu dieser Zeitperiode einfach wenig Bewegtbildmaterial gibt. Ich finde die gestellten Szenen aber legitim, auch wenn sie wenig aussagekräftig sind. Von den anderen betrogenen Frauen, Pernilla Sjöholm und Ayleen Charlotte, gibt es hingegen reichlich Material. Whatsapp-Texte, Sprachnachrichten von Simon, Videoschnipsel. All das liefert ein umfangreiches Bild, auch wenn die Geschichte nur von einer Seite, nämlich der Opferseite, beleuchtet wird. Die Beweise sind erdrückend. Und weil die Geschichte wirklich rund um den Globus spielt, hat man durchaus manchmal das Gefühl einem Thriller zuzuschauen.
Schauspielerische Scharade
Bekommt man eine E-Mail von einem „Mitglied des Königshauses“ in gebrochenem Deutsch oder Englisch, erkennt man den Scam sofort. Simon hingegen hat hier eine vollkommene Illusion kreiert. Es wäre leicht „Victim Blaming“ zu betreiben. Auch im Film wird dies thematisiert. Niemand könne doch ernsthaft so naiv gewesen sein. Was viele allerdings vergessen: hier wird auf zwei Stunden eingedampft, was in der Realität über Wochen und Monate stattfand. Viele Informationen von Simon wurden von Dritten bestätigt. Diese emotionale Abhängigkeit, das blinde Vertrauen, das Simon über einen längeren Zeitraum mit den Frauen aufgebaut hat, wird glaubhaft porträtiert.
Empress Ayleen of eBay
Die Dokumentation endet mit einer dritten hintergangenen Frau: Ayleen. Ayleen hatte den großen Vorteil, dass sie noch mit Simon zusammen war, als die ersten beiden Frauen mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit gingen. Sie begriff, dass sie in der Lage ist, den Schwindler anzuschwindeln und einen Teil ihres Geldes zurückzubekommen. Da Simon dringend Geld brauchte, schlug sie ihm vor, einen Teil seiner Garderobe zu verkaufen und ihm das Geld zukommen zu lassen. Natürlich hat sie das nicht gemacht. Die Klamotten hat sie trotzdem bekommen. Ayleen zuzuschauen, wie sie im Interview kurz auf ihr Handy schaut und grinsend verkündet, dass sie gerade eine Mitteilung zu einem von Simons Kleidungsstücken bekommen hat und dass sie immer noch fleißig Simons Klamotten verkauft, da kann man nicht anders als laut applaudieren. Das letzte Wort wird in dieser Geschichte noch nicht gesprochen sein. Tinder hat Simon Leviev inzwischen von der Plattform ausgesperrt.
8.5/10