Wer heutzutage in London Theaterstücke sehen möchte, wird schnell mit recht hohen Ticketpreisen konfrontiert. Gerade die großen West End-Produktionen sind mittlerweile für viele kaum noch erschwinglich. Es lohnt sich daher immer auch ein Blick in die kleineren Häuser, fernab des Stadtzentrums. Und OTHERLAND im Almeida Theatre war definitiv einen Blick wert. OTHERLAND beginnt mit der Hochzeit von Jo (Jade Anouka) und Harry (Fizz Sinclair). Doch die beiden trennen sich schließlich, als Harry beschließt eine Geschlechtsumwandlung durchzuführen und fortan als Frau zu leben. Jo läuft während ihrer Selbstfindungsreise nach der Trennung Gabby (Amanda Wilkin) über den Weg. Die beiden werden schließlich ein Paar. Obwohl Jo keine Kinder möchte, steht der Kinderwunsch von Gabby immer wieder im Raum. Parallel dazu versucht Harry ihre Transformation zur Frau abzuschließen.

Trennung als Aufbruch in neue Welten
In Chris Bushs packendem Stück geht es neben Themen wie Identität, Mutterschaft und Transformation besonders um die Frage: Was bedeutet es wirklich, eine Frau zu sein? Unter der Regie von Ann Yee navigiert das rein weibliche Ensemble durch diese komplexe Thematik. Die beiden Hauptdarstellerinnen Jade Anouka (könnte der ein oder andere aus DUNE: PROPHECY kennen) und Fizz Sinclair schaffen es, die Verbundenheit ihrer Figuren authentisch und humorvoll zu transportieren. Das anfänglich minimalistische Bühnenbild – eine runde Bühne mit Stühlen am Rand – spiegelt auch die Einfachheit der Ausgangssituation wider. Die Schauspielerinnen, zunächst in festlicher Hochzeitskleidung und später in Alltagskleidung, erklären im ersten Akt von OTHERLAND die Ausgangslage. Die Beziehungen der Figuren untereinander. Neben den drei Hauptfiguren Jo, Harry und Gabby gibt es auch noch weitere Frauen, die als Chor auftreten. Sie treten wie die guten Freunde des Paares auf und kommentieren das Geschehen.

Genreübergreifende Allegorien
Nach der Pause vollzieht das Stück eine Transformation – sowohl thematisch als auch visuell. Es geht tatsächlich ins namensgebende OTHERLAND. Die Bühne wird umgebaut. Eine runde Vertiefung mit Wasser befindet sich in der Bühnenmitte und ein Fischernetz hängt darüber. Was folgt, ist eine Verflechtung von Realismus und fantastischen Elementen. Die Inszenierung erzählt parallel die Geschichten von Jo und Harry weiter, allerdings in unterschiedlichen Genres. Jo, die mit ihrer Mutterrolle, die sie eigentlich nie haben wollte, hadert, wird in eine Sci-Fi-Welt geworfen. Dort ist sie eine emotionslose „Gebärmaschine“ mit silbernem Bauch. Harrys Weg der Geschlechtsumwandlung, metaphorisch dargestellt durch ein Fischwesen, das seinen Platz an Land sucht. Entdeckt wird das Fischwesen schließlich von einem Wissenschaftler, der es allerdings nur als Kuriosität und Forschungsobjekt behandelt. Später wird das Fischwesen von einem wütenden Mob mit brennenden Fackeln bedroht. Diese Szene fungiert als kraftvolle Allegorie für die gesellschaftliche Ausgrenzung von Transfrauen. Die Kostümierung verstärkt diesen Kontrast: Während Jos Geschichte futuristische Elemente einbezieht, trägt das Ensemble in Harrys Geschichte altertümliche Kleidung, die die rückschrittlichen Weltanschauungen ihrer Trägerinnen sichtbar macht.

Chorische Kommentare
Eine besondere Stärke des Stücks liegt neben dem Bühnenbild auch in seiner musikalischen Komponente. Über der Bühne befindet sich eine kleine Kabine mit der musikalischen Leitung Jennifer Whyte, begleitet von Harfe (Catrin Meek) und Cello (Gabriella Swallow). Der Chor, der im doppelten Sinne als gesangliches Element und als mehrstimmige Erzählstimme fungiert, verleiht dem Stück eine zusätzliche Dimension und betont die emotionalen Höhepunkte. Alle Darstellerinnen singen allesamt fantastisch und unterstreichen die Gefühlswelt der beiden Protagonistinnen. So ganz generell kann man sagen, dass alle mit wenigen Requisiten schaffen eine packende Geschichte zu erzählen. Auch wenn der Fokus sicher auf Jade Anouka und Fizz Sinclair liegt, ist die Besetzung durch die Bank überzeugend.

Warum Frau sein?
Im Kern stellt OTHERLAND eine provokante Frage: Warum sollte sich jemand freiwillig dazu entscheiden, eine Frau zu sein? Das Stück beleuchtet schonungslos die gesellschaftlichen Nachteile und Herausforderungen: die Belästigung durch einen alten Mann auf einem menschenleeren Bahnsteig, die Reduzierung auf körperliche Merkmale, die Frage nach → (Nicht)Mutterschaft oder die Ausgrenzung von Transfrauen aus feministischen Räumen. Diese Beispiele kennt man weitestgehend. Hier hätte ich mir noch ein bißchen frischeren Wind gewünscht. Eine Perspektive, die man vielleicht noch nicht kennt. Das Stück endet mit einem Wiedersehen von Jo und Harry nach ihren Transformationen. Diese Schlussszene fasst noch einmal die zentrale Botschaft des Stücks zusammen. Identität ist nicht statisch, sondern ein fortlaufender Prozess der Selbstfindung und -neuerfindung.
Gesehen am 07.03.2025 im Almeida Theatre, London
9/10
Das hast du toll rezensiert! Wirklich ein sehr beeindruckender Abend.
PS: Es hat sich ein kleiner Fehler eingeschlichen: es ist das Almeida Theatre.
Ich hab’s bestimmt doppelt und dreifach korrekturgelesen und trotzdem überlesen. Danke für den Hinweis. Ist korrigiert.