Schon länger habe ich nicht mehr in das Angebot von NTatHome reingeschaut. Als aber der gemeinsame LUCIFER-Serienmarathon mit einer Freundin aufgrund technischer Schwierigkeiten nicht stattfand, wichen wir auf NTatHome aus. OLIVER TWIST geht immer, dachten wir uns, und weil die Inszenierung vom Leeds Playhouse so plakativ auf dem Startbildschirm prangte, fiel die Entscheidung zugunsten der Charles-Dickens-Inszenierung aus. Der tragische Held der Geschichte ist das Findelkind Oliver Twist (Brooklyn Melvin), der im Armenhaus einer englischen Kleinstadt aufwächst, ohne etwas über seine Herkunft zu erfahren. Oliver wird immer wieder verprügelt und flieht von seinen Herren zu Fuß nach London. Dort angekommen, gerät er in die Fänge der Hehlerin Fagin (Caroline Parker), die ihn vor dem sicheren Tod auf der Straße bewahrt. Fagin ist der Kopf einer Diebesbande und macht Oliver mit dem Diebeshandwerk vertraut.
Mit Händen und Füßen
Der Held ist sprachlos. Brooklyn Melvin muss in seiner Titelrolle nicht ein einziges Wort sagen. Schreien, ja, aber sprechen nicht. In der Inszenierung von Regisseurin Amy Leach ist Oliver Twist nämlich taub. Um diesem Umstand auch angemessen gerecht zu werden, gibt es an vielen Stellen britische Gebärdensprache und Schrifttafeln zum Lesen. Immer wieder ist der Satz „Read my face“ zu hören. Zudem drehen die anderen Charaktere Oliver bewusst den Rücken zu, wenn er etwas nicht erfahren soll, sodass es unmöglich ist, die Lippen zu lesen. Und immer wieder werden einzelne Begriffe in Zeichensprache – auch für das hörende Publikum – erklärt. All das wirkt mühelos. Als wäre es noch nie anders gewesen.
Was für ein Ensemble!
Die Besetzung ist ganz ausgezeichnet. Nahezu alle Schauspielenden bekommen eine Szene zum Glänzen. Nadeem Islam beispielsweise in der Szene, in der er als Artful Dodger Oliver von der Straße aufliest. Kein Wunder, dass Oliver diesem Charisma nicht erliegen kann. Auch Caroline Parker macht als pinkhaarige Fagin eine gute Figur. Mal macht sie mit boshaftem Hexenlachen ihren eigenen Leuten Angst, mal schreckt sie mit furchteinflößender Mimik vor dem brutalen Bill Sikes (Stephen Collins) zurück. Neben Brooklyn Melvin muss man auch noch Katie Erich in ihrer Rolle als Rose positiv hervorheben. Ihre offene, herzliche Art ist ansteckend.
Was für ein Twist!
Immer wieder werden Misshandlungen zum Thema gemacht. Diese werden auch recht drastisch dargestellt. Auch wenn der Mord der Prostituierten Nancy lediglich mit brutaler Gestik und einem Off-Kommentar von ihr illustriert wird, wirkt es gerade dadurch besonders heftig. Auch die Geburt von Oliver unter widrigen Umständen wirkt nicht zuletzt auch durch das in schwarz getauchte Bühnenbild besonders beschwerlich. Das Stück ist für Kinder ab 11 Jahren freigegeben, was ich persönlich aufgrund der Gewaltszenen etwas arg früh finde. In der letzten Szene des Stücks wird noch einmal darauf hingewiesen, dass der vermeintlich uralte Dickens-Stoff immer noch etwas Aktuelles hat. Die Repräsentation von Gehörlosen in Theaterstücken, Filmen und Serien hat leider immer noch keine große Priorität. Dabei hat diese Inszenierung doch gezeigt, wie gut das funktionieren kann.
8.5/10
OLIVER TWIST ist momentan im Streamingangebot von NTatHome gehalten. (Stand: Februar 2022)
