GOTT war eine der Resi-Produktionen, die dem Lockdown zum Opfer gefallen sind. Und schlimmer noch, zwischenzeitlich brachte die ARD eine → eigene Fassung des Theaterstücks heraus. Die habe ich damals aber absichtlich boykottiert. Wer will schon das Stück aus der Konserve, wenn man es auch live erleben kann? Verhandelt wird der Fall von Elisabeth Gärtner (Charlotte Schwab). Sie ist pensionierte Architektin und will sterben. Ihr geliebter Ehemann ist vor drei Jahren an Krebs gestorben und ohne ihn macht für sie das Leben keinen Sinn mehr. Ein Medikament, das ihr erlaubt, selbstbestimmt in den Tod zu gehen, wird ihr von ihrer Ärztin (Evelyne Gugolz) aber verweigert. Jetzt soll vor dem Ethikrat grundsätzlich über ihren Fall entschieden werden. Juristische, medizinische und theologische Sachverständige streiten über die Frage: Hat der Mensch ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben? Dürfen Ärztinnen und Ärzte beim Suizid helfen? Und wem gehört eigentlich unser Leben? Uns? Dem Staat? Gott?
Moralische, ethische und rechtliche Zwickmühlen
Das deutsche Recht ist faszinierend: Man darf einem Suizidwilligen einen Strick reichen, damit er sich damit erhängen kann; man muss ihn aber retten, denn sonst wäre es unterlassene Hilfeleistung. Der Autor und Jurist Ferdinand von Schirach liefert fünf Jahre nach seinem ersten Theaterstück TERROR, → das auch schon von der ARD verfilmt wurde, ein neues Gedankenexperiment. Bei TERROR war die Frage: Darf ein Flugzeug mit 164 Menschen an Bord, das sich in der Gewalt eines Terroristen befindet, abgeschossen werden um einen Terroranschlag zu verhindern, der viel mehr Menschen das Leben kosten würde? In GOTT wird die Frage diskutiert, ob und unter welchen Umständen man einem Menschen helfen darf, sich das Leben zu nehmen? Muss der Staat selbstbestimmtes Sterben ermöglichen? Am Ende des Stücks ist das Publikum gefragt. Mit grünen oder roten Karten darf es abstimmen, ob dem Wunsch von Frau Gärtner entsprochen werden soll – oder eben nicht.
Beeinflussung durch Sympathie
Ein ganze andere Erkenntnis war für mich, wie leicht man durch Sympathie beeinflussbar ist. Oder vielmehr, inwiefern ich mich dadurch beeinflussen lasse. Das Kuriose ist, dass ich mich damals bei TERROR noch über die Besetzung aufregt habe. „Wie kann man denn bitte Florian David Fitz auf den Piloten besetzen? Da werden seine Fangirls doch sicher verhindern, dass er hinter Gittern kommt.“ Ich erinnere mich noch daran, dass ich kurz nach der Fernsehausstrahlung damals ein Interview mit von Schirach gelesen habe, in dem er meinte, dass Sympathie und Antipathie durchaus auch Auswirkungen auf den Ausgang von Gerichtsverhandlungen hat. „Mein“ Florian David Fitz hieß an diesem Abend Michael Wächter. Was fand ich diesen Anwalt überzeugend… Und als ich mir dann Tage später Gedanken zu meinem grünen und meinem roten Kärtchen machte und warum ich welche Karte am Ende des Stücks in die Höhe hielt, war das irgendwie eine ernüchternde Erkenntnis.
Unentschieden
Das spartanische Bühnenbild von Volker Thiele trägt dazu bei, dass man sich voll und ganz auf das Pro und Contra konzentrieren kann. Die Rollen sind allesamt großartig besetzt. Das letzte Drittel hatte kleinere Längen, was hauptsächlich am theologischen Sachverständigen Thiel lag, der wenig neue Argumente vorbrachte und vom Anwalt regelrecht „zerpflückt“ wurde. Wie schon erwähnt, habe ich auch noch Tage später über das Stück nachgedacht. Immer ein gutes Zeichen. → Meine Begleitung und ich, wir waren bei der finalen Abstimmung nicht einer Meinung. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir nach einem Theaterbesuch jemals so lebhaft hinterher über das Stück diskutiert hätten wie bei GOTT. Das ist die große Stärke des Stücks: es liefert eine gute Grundlage zum Debattieren.
9/10
Gesehen am 27.07.2021, 12.10.2021 und 07.02.2022 im Residenztheater