Auch wenn heutzutage weitestgehend mittels Telefon, E-Mail und SMS kommuniziert wird, übt der Brief noch heute eine gewisse Faszination aus. Das beweisen nicht zuletzt immer wieder ausverkaufte Veranstaltungsreihen wie → “Letters Live” aus Großbritannien, bei der Schauspieler und andere bekannte Leute → Briefe vorlesen. Der Brief selbst besteht aus zwei Komponenten: dem Umschlag und dem Briefinhalt. Allein schon das Aussehen eines Briefes sagt viel über den Absender aus, das weiß nicht nur Sherlock Holmes, der in der THE GREAT GAME-Folge den Absender anhand der Materialität des Umschlagpapiers eingrenzen kann. Auch eine Briefmarke oder – wie in Historienfilmen üblich – ein meist rotes Wachssiegel gibt Auskunft über den Absender und dessen Stand in der Gesellschaft. Der Transport wurde früher mit der Postkutsche oder dem Postzug (THE FIRST GREAT TRAINROBBERY, 1979) durchgeführt. Beide Transportmittel werden im klassischen Western auch gerne für Überfälle benutzt. Tierische Überbringer von Briefen sind neben der Brieftaube, aber auch Eulen (HARRY POTTER) oder Raben (GAME OF THRONES).
Quelle: © Warner Bros. via parodypieshow/Youtube
In postapokalyptischen Zeiten muss Kevin Costner auch ganz allein als berittener POSTMAN (1997) die Post verteilen. Doch bevor Briefe zugestellt werden, müssen sie erst einmal geschrieben werden. Mit einer Feder (DRACULA, 1992), mit einem Füller, Bleistift oder Kugelschreiber (MOONRISE KINGDOM) und der Schreibmaschine (SECRETARY). Briefe werden nicht nur gelesen, sondern auch mit Vorliebe versteckt. Zwischen den Seiten eines Buches oder in einem besonderen Geheimfach. Briefe werden verbrannt um über eine verflossene Liebe hinwegzukommen oder weil der Inhalt kompromittierend sein könnte wie etwa der Brief, den Sansa unter Zwang geschrieben hat (GAME OF THRONES Staffel 1 +7). Briefe findet man in Filmen und Serien häufiger als man denkt.
Die filmische Umsetzung: Voiceover und Kamera
Marcel von → Filmschrott
Gern genutzt wird das Voiceover vor allem bei Briefen von Verstorbenen Charakteren, beispielsweise im finalen Briefwechsel in THE FAULT IN OUR STARS. In THE NOTEBOOK kommt der Brief nicht direkt aus dem Grab, aber von einer verflossenen Liebe. Und statt einem einzigen Brief gibt es direkt 365 davon. Einen für jeden Tag im Jahr nach der Trennung dieser großen Liebe. In den meisten Fällen wird dabei das Gesicht des Lesenden gezeigt, um die Reaktion und Emotionen einzufangen. Alternativ wird der Brief selbst gezeigt. Eine etwas andere Möglichkeit, ist die Einblendung des erzählenden Charakters als Gedanke des Lesenden wie in PRIDE AND PREJUDICE. In THE SHAWSHANK REDEMPTION ist es schon eine Herausforderung, → den Brief überhaupt zu finden. Red, gespielt von Morgan Freeman, fährt aufs Land, wo er am Ende einer langen Steinmauer, unter einem Stein, der etwas anders aussieht, eine Schachtel findet, in der Andy Dufresnes Brief sich befindet, der dann von Tim Robbins aus dem Off vorgelesen wird und die Botschaft übermittelt, dass Hoffnung eine gute Sache ist.
Clip: © Universal Pictures via Movieclips/Youtube
Der Brief befreit uns vom Jetzt und Hier: Die Funktion des Briefes
Thomas Laufersweiler von → Schöner Denken
Beim Nachdenken über die Funktionen, die ein Brief übernehmen kann, fällt sofort auf, welche enorme intellektuelle Leistung es ist, Kommunikation aus der Beschränkung der Gegenwart zu befreien. Ein Brief ist eine Kommunikation, die sich an einen anderen Ort und an eine andere Zeit richtet. Nahezu jede Funktion, die Kommunikation übernehmen kann, trägt der Brief aus dem Jetzt heraus. Der Brief kann eine Liebe gestehen, eine Drohung aussprechen, eine schreckliche oder eine wundervolle Nachricht überbringen, die Liste ist nahezu endlos. Ein briefschreibender Mensch ist im Film oft ein Mensch, der einen Entschluss gefasst hat: etwas zu gestehen, etwas offenzulegen. Briefe stehen für stille Beharrlichkeit (vgl. „THE SHAWSHANK REDEMPTION), vor allem aber auch für Irreversibilität: der filmische Einwurf eines Briefes ist jedesmal spürbar etwas, was sich nicht wieder zurücknehmen lässt.
Beginnen wir mit dem Liebesbrief. Besonders dramatisch ist der Liebesbrief, wenn er geschrieben wird, weil der Schreiber oder die Schreiberin sich nicht traut, die Liebe von Angesicht zu Angesicht zu gestehen, noch tragischer, wenn man für einen Anderen einen Liebesbrief schreibt und zwar für die Frau, die man selbst liebt. Es ist Gerard Depardieus Sternstunde auf der Leinwand, sein CYRANO DE BERGERAC (Frankreich 1990) sprüht Funken vor lauter Poesie, Vorwitz, Kampfesmut … und Schüchternheit. Seine Briefe erobern das Herz von Roxane – wenn auch für einen Anderen. Wunderbar die Szene, wie ihr Atem beim Lesen immer schneller geht, die Erregung sie übermannt, bis sie von Liebesworten überwältigt, ohnmächtig wird.
In Spike Jonzes HER (USA 2013) ist das Schreiben von Briefen für Andere sogar ein Beruf. Der schüchterne, aber sehr empathische Theodore Twombly wird dafür bezahlt, Briefe, auch Liebesbriefe, zu verfassen. Spike Jonzes außergewöhnlicher Film beginnt mit Theodore (Joaquin Phoenix), wie er direkt in die Kamera eine Liebeserklärung spricht. Dem Zuschauer wird Stück für Stück klar, dass es sich gar nicht um seinen eigenen Liebesbrief handelt, dann lernen wir, dass er den Brief im Namen einer alten Dame verfasst, die ihren Mann zur goldenen Hochzeit mit einem wunderbaren Brief überraschen will. Theodore lässt den Brief drucken, die Kamera öffnet den Blick, der Zuschauer erkennt einen Raum voller Briefeschreiber, deren Stimmen sich vermischen. Und der Film endet mit einem Liebesbrief, ein Abschiedsbrief, mit dem sich Theodore von seiner Ex-Frau verabschiedet – ein versöhnlicher Brief, in dem er um Entschuldigung bittet und sich bedankt. Der Weg ist nach diesem Brief frei für das Leben, das bleibt. Am Ende von vier gescheiterten Beziehungen lässt Spike Jonze seinen Film hoffnungsvoll enden – in wunderbaren Lichtern und Farben.
Clip: © Warner Bros. via Zulashraf Abd Rahman/Youtube
Valmont ist ein großer Verführer: Wir kennen John Malkovich in dieser Rolle aus DANGEROUS LIASIONS (GB 1988), der Verfilmung des berühmtesten französischen Briefromans von Pierre-Ambroise-François Choderlos de Laclos, erschienen 1782. Im Jahr 1989 schlüpfte auch Colin Firth in diese Rolle. Milos Formans VALMONT steht im Schatten von Stephen Frears Film. Aber man sollte Colin Firth eine Chance als → charmantem Intriganten Valmont geben, wie er die unschuldige Cecile verführt und entjungfert, während er ihr einen Liebesbrief an einen anderen Mann diktiert.
Wer allerdings einen →Liebesfilm voller Liebesbriefe sucht, der Vieldeutigkeit und Kunstsinn durch Kitsch, Romantik und Groschenheftherzschmerz ersetzt, dem sei lieber „P.S. I LOVE YOU“ (USA 2007) ans Herz gelegt: mehr Liebesbriefe pro Filme gehen kaum. Und wer dann noch eine Portion Mystery drauf legt, kann in THE LAKE HOUSE (USA 2006) sehen, wie sich Keanu Reeves und Sandra Bullock über die Grenzen von Vergangenheit und Zukunft hinweg (Liebes)Briefe schreiben. So einen → magischen Briefkasten hätte man auch gerne, um Nachrichten in seine eigene Vergangenheit zu schicken. Die nächste Mystery-Stufe ist dann schon Briefe an die Liebe selbst, an die Zeit und an den Tod zu schicken. Will Smith schreibt diese Briefe als Reaktion auf einen Schicksalsschlag in „Verborgene Schönheit“ (USA 2017) und erhält Antwort …
Trailer: © Warner Bros. Deutschland
J. K. Rowling hat für Harry Potter ein ganz neues Genre erfunden: Der Brief, der das Schicksal seines Empfängers verändern wird und durch nichts, aber auch gar nichts aufzuhalten ist. Und wenn es bedeutet, dass tausende Briefe für den jungen Harry Potter durch ebenso viele Eulen zugestellt werden, bis sie durch jede Ritze in das Haus eindringen, durch den Kamin, durch den zugenagelten Briefschlitz – standesgemäß für eine Einladung nach Hogwarts am 11. Geburtstag – in „HARRY POTTER AND THE PHILOSOPHER’S STONE“ (GB 2001).
Ein Brief kann aber auch ein Begleitschreiben für eine Person sein, ein Sendschreiben. Wie der Brief, den der Junge in der linken Hand hält, der 1828 in Nürnberg auftaucht. In Werner Herzogs Film JEDER FÜR SICH UDN GOTT GEGEN ALLE (D 1974) steht Kaspar Hauser ,gespielt von Bruno S., auf einem Platz und weiß keine Antwort, wer er sei, woher er käme, wohin er wolle. Und sein Begleitschreiben, dass später der Rittmeister den Schaulustigen vorliest, während Kaspar Hauser besinnungslos im Stroh liegt, lüftet sein Geheimnis nicht. Aber es legt den Grundstein für eine Legende: Dass er sein ganzes Leben in einem Kerkerloch gelebt habe und keinen Menschen gesehen habe, dass er daher keine Vorstellung von der Welt und den Menschen habe. Einige sagen, dass so ein Schicksal einen besonderen Grund haben müsse und: dass er der Erbprinz von Baden sei. In Herzogs ergreifend grauem, trostlosen, oft unscharfem Film ist der Brief alles, was Kaspar Hauser aus seiner Vergangenheit hat – aber es führt ihn nicht in eine gute Zukunft. Er wird zu einer → Jahrmarktssensation und ausgestellt wird er mit dem Brief in der linken Hand …
Der ultimative Supercut zum Thema Film stammt von arte! Da kann man sich Inspirationen für viele Filmabende holen 🙂
Quelle: © Arte
Die Brieffreundschaft
Marcel von Filmschrott
In Zeiten von Email, SMS und Textmessengern kann man sich kaum noch vorstellen, dass die Leute mal kleine Papierzettel an die Beine von Tauben gebunden haben, um diese dann zu anderen Leuten zu schicken, die dann wiederum eine Taube zurückschickten. Aber so war es damals 1940 in THE SHOP AROUND THE CORNER noch, als sich James Stewart und Margaret Sullivan als verhasste Mitarbeiter gegenseitig anonyme Briefe schrieben. Okay, zugegeben, Brieftauben hatten sie nicht, aber da sie nur wenige Blocks auseinander wohnten, hätte sich das auch nicht gelohnt. Im Quasi-Remake YOU’VE GOT MAIL mit Tom Hanks und Meg Ryan gab es nebenbei auch keine Brieftauben; es gab nichtmal Briefe, denn alles wurde → über Email erledigt. Natürlich funktioniert der Briefverkehr auch über größere Strecken. So schicken sich beispielsweise Anthony Hopkins und Anne Bancroft in 84 CHARING CROSS ROAD Briefe und Bücher → von London nach New York und umgekehrt. Und zum Pläne schmieden bieten sich Briefe auch sehr gut an. In MOONRISE KINGDOM beschließen Sam und Suzy über ihre Brieffreundschaft hinaus, gemeinsam wegzulaufen. Manchmal gestaltet sich so eine Brieffreundschaft eher einseitig. In THE READER schreibt Kate Winslet alias Hanna Briefe aus dem Gefängnis an Michael. Dieser antwortet nie, aber Hanna schreibt immer weitere Briefe und hält so diese einseitige Brieffreundschaft am Leben. Die verschiedenen Verfilmungen des französischen Romans LES LIAISONS DANGEREUSES strotzen in der Regel vor Brieffreundschaften. Dabei werden abgefangene Briefe allerdings gerne für Intrigen und Manipulationen genutzt. Im Stop Motion Animationsfilm MARY & MAX findet → ein ständiger Briefverkehr zwischen einem jungen Mädchen mit unfürsorglichen Eltern und einem älteren autistischen Mann statt. Durch ihre Briefe helfen sie sich gegenseitig, ihr Leben besser zu gestalten, ohne sich jemals zu treffen.
https://www.youtube.com/watch?v=w42xYN-pVYA
Clip: © Tobis Film via Steven Cornelli/Youtube
Exkurs: Brief und Erzählperspektive – ein Beispiel aus „The Searchers“ („Der schwarze Falke“) von John Ford
Götz Kohlmann von →SchönerDenken
„Ich habe da einen Brief“, sagt der stutzerhaft gekleidete Cowboy auf dem Kutschbock. „Bei Gott, einen Brief“, sagt der herbeilaufende alte Farmer und legt das Brennholz, das er im Arm trägt, zu Boden. Eine Szene aus „The Searchers“ von John Ford – unter allen amerikanischen Tonfilmen der vielleicht einflussreichste. Und der Brief, den der junge Mann überbringt, wurde geschrieben von seinem Rivalen um die Gunst von Laurie, der Farmerstochter. Martin, der Briefschreiber, ist seit Jahren gemeinsam mit seinem Onkel Ethan Edwards unterwegs, um seine von Indianern entführte Schwester Debbie zu finden. Bei Ethan ist die Motivlage wesentlich komplexer als bei Martin: er wird angetrieben von Rachegelüsten und Verzweiflung, denn bei dem Komantschenüberfall auf die Farm von Debbies Eltern wurde Martha getötet, die Frau seines Bruders, aber auch die große, unerfüllte Liebe seines Lebens. John Wayne spielt Ethan, einen von den Wirren des Bürgerkriegs zurückgelassenen, ruhelos umherwandernden Glücksritter, der die Indianer hasst und nicht glaubt, dass Debbie, sollten sie sie denn finden, wieder ins Leben der „Weißen“ zurückgeführt werden kann. Entweder wird sie wahnsinnig sein oder die Squaw des Häuptlings, denkt er. Martin (Jeffrey Hunter) fürchtet zu Recht, dass Ethan Debbie töten will.
Der Film war bisher bei diesen beiden in den Weiten des Westens umherdriftenden Männern. Nun wählt Ford das Mittel des Briefes, um die Erzählperspektive zu wechseln. Wie so viele Briefe im Film ist Martins Brief für Laurie natürlich ein Liebesbrief, wenn dieser hier als solcher auch nicht zu erkennen ist und als Reisebericht daher kommt. „Zwei Briefe in einem Jahr! Bei Gott!“ ruft freudig der alte Herr, ruft seine Frau und Laurie herbei und bittet den Gast ins Haus. Alle haben sich in der Stube erwartungsvoll versammelt und Laurie hält strahlend den Brief von Martin in Händen. „Komm Laurie, lies den Brief vor“, sagt die Mutter. „Aber Mutter, der Brief ist für mich!“ Diesen Einwand lassen die Eltern nicht gelten und der etwas tüdelige Vater, der nicht lesen kann, setzt „zum Zuhören“ seine Brille auf. Alle sind gespannt, was die „Searchers“ erlebt haben. Laurie (gespielt von Vera Miles) setzt sich betroffen, innerlich bebend auf eine Bank. Martin ist ihre große Liebe, da hat Charlie, der Briefbote, keine Chance, und wenn er sich noch so sehr ins Zeug legt. „Meine liebe Laurie“, beginnt sie vorzulesen, unterbricht sich aber sofort empört wieder: „Er schreibt Laurie mit einem Y statt mit ie, das könnte er doch wirklich wissen.“ Die Eltern beruhigen, Charlie klimpert auf seiner Gitarre, Laurie liest weiter, ihre Stimme nun im Off, während uns die im Brief geschilderten Erlebnisse von Ethan und Martin beim Tauschhandel in einem Indianerlager als Rückblende gezeigt werden.
Warum dieser Perspektivwechsel?: Ford will uns die verstreichende Zeit der Suche der beiden Männer erfahrbar machen, das Epische ihrer Reise, und er will uns einen tieferen Einblick in Lauries Empfindungswelt geben, zumal sich in der Geschichte von Laurie und Martin die nur aus Andeutungen lesbare Geschichte von Ethan und Martha spiegelt, als ihr Subtext mitläuft. Schon bald setzt die Stimme der Vorleserin aus und wir sehen nur noch einen Stummfilm, untermalt mit heiterer Musik: Martin beim Tauschhandel mit einem alten, Zigarre rauchenden Indianer. Und dann lässt der Film auch dieses Stilmittel wieder hinter sich und kehrt zur bisherigen direkten Erzählweise zurück. Ethan drängt Martin zum Aufbruch. Die folgende Passage (Martin hat sich bei den Indianern unwissentlich eine Ehefrau eingehandelt, die ihnen nun treuherzig nachgeritten ist) sehen wir, bevor Laurie im Brief an die betreffende Stelle kommt. Damit wird Suspense aufgebaut – der Zuschauer weiß schon mehr als Laurie: Wie wird sie auf diese Eröffnung reagieren?
Wir sind wieder in der Stube. Laurie liest den Brief: „Dann muss ich Dir noch etwas berichten, bevor Du es von Ethan hörst: wie ich zu einer Frau kam.“ Laurie hält inne. „Zu einer Frau?“ feixt der sofort Morgenluft witternde Charlie. „Fein!“ ruft der naive, gar nichts blickende Vater, „ein junger Mann soll frühzeitig heiraten, stimmt es, Mama?“ Die gönnt ihm nur einen genervten Blick und Laurie wird aufgefordert, weiterzulesen. „Zu einer kleinen Komantschen-Squaw“, liest sie mit plötzlich erhobener Stimme. Da ist sie aber schon empört aufgesprungen und wirft den Brief ins Kaminfeuer. Der Vater rettet den angekokelten Brief und Laurie wird von der Mutter gezwungen, weiterzulesen. Die sortiert wütend die zerknitterten Blätter. Wir sind wieder bei Ethan und Martin und sehen, wie es mit „Look“, der Indianerin, weiterging. Zum Abschluss dieser Episode (Look flieht, als sie bemerkt, dass die beiden Männer nach dem gefürchteten Häuptling „Scar“ suchen – in der deutschen Fassung: der titelgebende „Schwarze Falke“) zeigt Ford noch einmal kurz Laurie, groß im Profil, die von einsetzenden Schneefällen liest.
Dann sehen wir wieder die Suchenden, auf einem Schneefeld, wie sie sich einer Büffelherde nähern. Martins Stimme löst nun Debbies Erzählerstimme ab: „Da ereignete sich etwas, was ich bis heute nicht verstehen kann. Wir sichteten eine kleine Herde …“ Es folgt die berühmte Szene, in der Ethan wahllos und ununterbrochen auf die Tiere schießt und dazu ausstößt: „Ich töte sie! Ich töte sie! Ich töte sie!“ Und auf Martins Frage, was das zu bedeuten habe, brüllt er: „Hunger! Leere Bäuche! Das hat es zu bedeuten, Du Hohlkopf!“. Es ist die Szene, in der an Ethans Rassismus nicht mehr zu zweifeln ist. Doch er ist kein eindimensionaler Charakter, sondern so vielschichtig wie der Film selbst. Kurz danach finden sie die Indianerin „Look“ tot auf, Opfer eines Massakers der US-Armee in einem indianischen Lager. Und Ethan streicht zärtlich den Schnee von Looks Bowler-Hut, den er neben ihrer Leiche gefunden hat. Nichts in „The Searchers“ ist zufällig. Alles verweist auf etwas anderes, kann Symbol werden, auch Details im Dekor, in der Kleidung. Wie die Zigarre, die der alte Indianer raucht, ist der Hut ein Kennzeichen der Assimilation, und mit beiden Objekten wird der Häuptling (der sich einen Zylinderhut in Martins Ware aussucht) zur Parodie des „weißen Mannes“ von Welt. Er entfernt sich bereits von seiner Herkunft, Scar nicht, der noch im erbitterten Kampf mit der fremden, übermächtigen Kultur steht und nur an den Gütern interessiert ist, die ihm im Kampf nutzen, Pferde und Gewehre.
Es folgt eine Szene in einem Fort, wo Ethan und Martin unter den von der Armee befreiten weißen Mädchen nach Debbie suchen – ohne die Stimme des Brief schreibenden Martin, ohne die Stimme der lesenden Laurie. Schnitt: Wir sind zurück im Farmhaus und Laurie liest das Ende des Briefs: „ … Mit vielen Grüßen verbleibe ich. Dein sehr ergebener Martin Pawley“. Enttäuscht über Martins distanzierte Schlussformel („Er musste seinen vollen Namen darunter setzen, er konnte nicht einfach Martin schreiben.“) lässt Laurie den Brief in ihren Schoß sinken – und bemerkt nicht, dass das auf Martins Weise eine liebevoll-ironische Anspielung war, nennt sie ihn doch selbst im Verlauf des Films mehrmals beim vollen Namen, wenn er wieder einmal hölzern und linkisch-ungeschickt ist („Martin Pawley! Wir beide sind verlobt, seitdem wir drei Jahre alt sind.“). Ihr Vater nimmt ihr den Brief resigniert aus den Händen, was sie fast ohne Reaktion geschehen lässt, und steckt ihn in seine Hosentasche – eine komische und zugleich tieftraurige Geste, zeigt sie doch wie gefangen Laurie in ihrem Elternhaus ist und wie sehr sie sich eine Ehe ersehnt, um daraus ausbrechen zu können. Lauries Mutter scheint das durchaus klar zu sein: „Charlie. Sie bleiben zum Essen. Ein Nein kommt nicht in Frage.“
Und die gesamte Brief-Sequenz endet damit, dass Laurie vom minnenden Charlie singend umgarnt wird. Diese hier detailliert nachvollzogene Passage aus Fords Western von 1956 ist eines der herausragenden Beispiele, wie man das Objekt Brief im Film dramaturgisch nutzen kann. Ford verändert die Perspektive, doch die mittels des Briefes eingeführten Erzählerstimmen (Laurie und Martin) fügen sich ideal ein; sie greifen das ausgeprägt elliptische Erzählen des übrigen Films auf, das die emotionale Wirkung verstärkt, den Zuschauer involviert und lange Zeitstrecken erfahrbar macht.
„Wenn dieser Film von mir wäre, hätte ich nichts mehr zu sagen“, schrieb einst das Münchner Autorenfilmer-Original Herbert Achternbusch in seinem singulären, leider kaum noch aufzutreibenden Roman „Der Tag wird kommen“. Und tatsächlich finden sich, seit das New Hollywood-Kino um Scorsese, Spielberg, Cimino, Lucas und Coppola „The Searchers“ als einen seiner wichtigsten filmhistorischen Referenzpunkte und als Inspirationsquelle für sich entdeckte, über Wim Wenders bis heute zu Quentin Tarantino regelmäßig Regisseure und Drehbuchautoren, die sich an Fords Meisterwerk orientieren.
In „The Searchers“ hören mehrere Menschen der Briefleserin zu; die Intimität, die in den meisten Beispielen der Filmgeschichte durch das Schreiben oder Lesen eines Briefes hergestellt wird, ist hier gestört. Denn meist sehen wir einen Schauspieler oder eine Schauspielerin allein mit dem Blatt Papier. Wir hören dazu oft ihre Stimme aus dem Off, die uns mitteilt, was gerade geschrieben oder gelesen wird. Wir sehen in Großaufnahme die Hand, das wandernde Schreibgerät und die Schrift, die manchmal die ganze große Kinoleinwand füllt. Die Briefszene ist im Kino das, was der Monolog im Theater ist, der große Augenblick für die Hauptfigur, Einblick gebend in tiefste Emotionen, den Kern der erzählten Geschichte frei legend. Es ist der Augenblick, in dem die Schauspieler ihr ganzes Können zeigen.
Wie kaum ein anderes Ding ermöglicht der Brief, dass sich der Zuschauer mit dem Darsteller identifiziert. Das Schreiben (per Hand) und das Lesen verzaubern, verklären ein Gesicht. Es wird schöner, gleich wie der jeweilige emotionale Zustand der Figur ist. Die Emotion, das Unumkehrbare, das Schwerwiegende der Worte: der Brief ist per se dramatisch. Er schafft eine Verbindung zwischen Figuren, öffnet Räume, ist ideal zum Wechsel des Schauplatzes, zum Spannungsaufbau, löst verhängnisvolle oder glückliche Entwicklungen aus, markiert wie der Monolog im Theater einen Wendepunkt der Handlung: was wird geschehen, wenn der Brief ankommt?
In „Broken Flowers“ von Jim Jarmusch beginnt damit der Film. Man hört über dem Vorspann zunächst nur das Tippen auf einer Schreibmaschine. Und dann begleiten die zu einem lässigen, coolen Song rhythmisch geschnittenen Bilder einen rosa Brief auf seinem Weg vom Wurf in den Briefkasten über die hochautomatisierte Maschinerie des Postverteilzentrums bis zur Briefträgerin und der Ankunft beim Adressaten. Das ist Bill Murray, der den in einer „Bill-Murray“-schweren Midlife-Crisis steckenden Playboy Don spielt, der aus dem rosafarbenen Brief erfährt, dass er einen 19 Jahre alten Sohn habe. Doch die Absenderin bleibt anonym. Welche Frau unter Dons zahlreichen verflossenen Liebschaften kommt als Mutter in Betracht? Don begibt sich auf eine Reise quer durch die Staaten zu vier Frauen, auch er wie John Wayne in Fords Film ein einsamer „Searcher“ – nach der Wahrheit und nach sich selbst.
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