Vor drei Jahren habe ich exakt die gleiche Inszenierung schon in Basel gesehen. Jetzt kann man sich natürlich fragen, warum ich zu der gleichen Inszenierung zwei Blogposts verfasse. Aber erstens sind schon wieder drei Jahre ins Land gegangen und zweitens ist Basel halt nicht München. Ich habe mich damals schon gefragt, ob und vor allen Dingen wie das Stück auch in München funktionieren könnte. Kurz zum Konzept: In DIE NACHT KURZ VOR DEN WÄLDERN erzählt der namenlose Protagonist (Michael Wächter), der einen Schlafplatz „für einen Teil der Nacht“ sucht, dem Publikum von seinem Leben. Der Weg führt dabei durch die Münchener Innenstadt, vom Marstall zur Tram hinunter in die S-Bahn-Station weiter zur Isar. Die Zuschauenden werden eingeladen, mitzulaufen. Die Stimme des Protagonisten immer mittels Kopfhörer im Ohr.
Die schönste Freude oder: May the Staatsschauspieler drown in peace
Als ich Ende März 2022 im Spielplan DIE NACHT KURZ VOR DEN WÄLDERN entdeckte, wurde ich schon ganz hibbelig. Ich war mir nach der Basel’schen Inszenierung ziemlich sicher, dass ich das Stück nie mehr wieder ansehen würde, ganz besonders nicht als reine Bühnenfassung. Erst zwei Tage später stand dann auch auf der Webseite, dass wieder Michael Wächter durch den Abend führen würde. Die frohe Kunde wurde natürlich umgehend geteilt. Eine Freundin, die das Stück noch nicht kannte, angeworben. Eine unbeteiligte Arbeitskollegin zum Mitlaufen verdonnert. Und natürlich die Glückliche, → die schon einmal in Basel mitgelaufen ist, umfassend informiert. Mein Vorfreu-Level erreichte dann am 18. Mai, dem Tag der Premiere, den vorläufigen Höhepunkt. → Auf Instagram postete der Regisseur des Stücks, Robin Ormond, ein Bild um die Premiere zu bewerben. Darauf sieht man Michael Wächter bis zu den Knöcheln in der Isar stehen. Daraufhin meldete sich Regiekollege Simon Stone (u.a. DREI SCHWESTERN). Warum er denn den Schauspieler nicht aus der Isar gerettet habe und für den eigenen Erfolg ertrinken lasse, wollte er von Ormond wissen. Ormond antwortete, es handele sich ja schließlich um eine Stück über die Isar, daher „may the staatsschauspieler drown in peace.“
Sich ausliefern und ausgeliefert sein
Und dann, nach einer gefühlten Ewigkeit war es endlich soweit. Auch wenn man das Stück schon kennt, fühlt es sich neu und frisch an. Indem man einfach mitgeht, liefert man sich ganz der unberechenbaren Szenerie aus. Michael Wächter, der abermals souverän durch den Abend führt, macht aber genau das Gleiche. Er reagiert auf die unmittelbare Umgebung. Auf Passanten, die entweder vorbeigehen. Oder irritiert und neugierig schauen. Es gibt diese kleinen Momente, die niemand planen kann und die jeden Abend zu etwas ganz Besonderem machen. Am Hauptbahnhof taucht plötzlich ein Polizist auf. Unser namenloser Protagonist zieht sich die Kapuze über den Kopf. Nur nicht auffallen. Ich ertappe mich dabei, die Anzeigen zu studieren. Dabei, voraussehen zu wollen, wo wir als Nächstes ein- oder aussteigen werden. Ich gleiche mental alle Bilder, die ich bereits im Vorfeld gesehen habe, mit unserer Route ab. Für Brillentragende ist es ein bißchen unhandlich Kopfhörer, Maske und Brille beim Ein- und Aussteigen in Tram und S-Bahn so im Gesicht zu platzieren, dass es pandemiekonform ist und dass man gleichzeitig noch etwas sieht und hört. Aber abgesehen davon, gibt es einfach nichts zu meckern. Langweilig wird es nie.
Lärm vs. Stille
Natürlich ist es nicht ganz fair die Innenstädte miteinander zu vergleichen. Basel hat eine verkehrsberuhigte Innenstadt; in München ist es nirgends so wirklich ruhig. Außer vielleicht in der Kirche St. Lukas. Dort landet man nach ca. einer Stunde Text auf dem Ohr, Bahnansagen, Stimmengewirr und Großstadtlärm. Plötzlich ist alles weit weg. Keine Umgebungsgeräusche. Einfach nur eine einzige, sonore Stimme in einem großen Raum. Herrlich. Michael Wächter spielt derart überzeugend seine Rolle, dass ein nichtsahnendes Pärchen am Isarstrand wenig später darüber nachdenkt die Polizei zu rufen. Ein Theatermitarbeiter schreitet ein und deutet schließlich auf die 20-köpfige Gruppe, die mit Kopfhörern auf dem Kabelsteg steht und zuschaut was vier Meter unter ihnen passiert. Und dann entschwindet er im Grünen. Über die Kopfhörer ist nur noch ein leises Rauschen zu hören.
9.5/10
Gesehen am 30.05.2022, 11.07.2022, 19.07.2022 und 18.04.2024 im Münchener Stadtgebiet
Wofür gibt’s den halben Punkt Abzug?
Die Masken-Brillen-Kopfhörer-Verrenkung 😉
Aah, I see.