Ich habe ja schon seit einigen Jahren diese These, dass es pro Jahr nur einen guten deutschen Film gibt. Der wird dann gehypt und ins Rennen um den Auslandsoscar geschickt. Dieses Jahr heißt der eine gute deutsche Film SYSTEMSPRENGER. Darin geht es um die neunjährige Bernadette, die von allen nur Benni (Helena Zengel) genannt wird. Benni ist verhaltensauffällig, mal wütend und agressiv, mal liebevoll und sensibel. Sie lebt deshalb auch nicht bei ihrer Mutter Bianca (Lisa Hagmeister), sondern bei Pflegefamilien. Dort bleibt sie aber aufgrund ihrer emotionalen Ausbrüche nie besonders lange. Keine leichte Situation für das Jugendamt, die für Kinder wie Benni einen eigenen Begriff hat: Systemsprenger. Nachdem Benni praktisch jedes Programm, das das System für Kinder wie sie bietet, durchlaufen hat, ist der Anti-Aggressionstrainer Micha (Albrecht Schuch) die letzte Hoffnung. Der arbeitet sonst eigentlich mit straffälligen Jugendlichen. Micha fährt mit Benni für drei Wochen in die freie Natur, um sie intensiv pädagogisch zu betreuen.
Helfen wollen und es doch nicht können
Es ist wirklich schwierig SYSTEMSPRENGER zu beschreiben. Man wird als Zuschauer einfach mitten in diese Situation geworfen, in der es weder Gewinner noch Verlierer gibt. Niemand hat Schuld. Es ist einfach wie es ist. Allein deshalb ist der Film schon eine kleine Besonderheit. Er schlägt sich nicht auf irgendeine Seite und hat trotz seiner Fiktionalität einen Hauch von Dokumentarfilm. Mit offenem Mund sitzt man da und hält den Atem an, wenn Benni mit einem Baby interagiert während die Eltern des Kindes noch schlafen. Jedes Mal sieht man das Unheil kommen und wird doch jedes Mal aufs Neue mit dem unbefriedigenden Gefühl zurückgelassen, dass es nicht die eine einfache Lösung gibt, die alle Beteiligten glücklich machen wird. Und man versteht die Ohnmacht. Die Ohnmacht, der Mutter, die nicht mit ihrem Kind klarkommt und sich ein Zusammenleben mit ihrer Tochter nicht vorstellen kann. Die Ohnmacht der Jugendamtsmitarbeiterin Frau Bafané (Gabriela Maria Schmiede), die Benni nirgends dauerhaft unterbringen kann. Die Ohnmacht vom Anti-Agressionstrainer Micha, der zunehmend in einen Gewissenskonflikt gerät.
Helena Zengel ist eine Wucht
Und dann ist da ja auch noch Benni. Helena Zengel hat mich umgehauen. Eigentlich haben mich alle Schauspieler umgehauen, aber Helena ganz besonders. Benni ist ein Mädchen, das eigentlich nur wieder zu ihrer Mutter möchte und gleichzeitig weiß, dass das nicht so einfach geht. Manchmal ist Benni auch einfach alles egal. Ganz egal, wen sie mit ihrem Verhalten verletzt, es führt zu Aufmerksamkeit. Für Benni ist jede Aufmerksamkeit eine „gute“ Aufmerksamkeit, auch wenn diese durch gewalttätiges Verhalten ihrerseits hervorgerufen wurde. Diese Vielzahl an Emotionen ihrer Figur, die auch durch permanente Wechsel ihrer Lebenssituation hervorgerufen werden, sind einfach packend und berührend. Jüngst wurde Helena Zengel auch bei den European Film Awards als beste Schauspielerin nominiert. In der gleichen Kategorie wie Oscar-Preisträgerin Olivia Colman und THE FAVORITE. Und das völlig zu Recht, denn Zengel spielt absolut preisverdächtig.
Keine leichte Kost
SYSTEMSPRENGER ist keine leichte Kost, allerdings auch nicht durchwegs depressiv. Es gibt diese flüchtigen Momente, wenn für eine kurze Zeit einmal alles in Ordnung ist. Und diese Momente genießt man als Zuschauer gleich doppelt und dreifach. Nora Fingscheidt, die eigentlich vom Dokumentarfilm kommt, hat für ihr beeindruckendes Spielfilmdebüt fünf Jahre über Systemsprenger recherchiert. Sie möchte nicht nur auf diese Kinder aufmerksam machen, sondern möchte auch auf die Wichtigkeit von Berufen im sozialen Bereich hinweisen. Komplettiert wird der packende Film noch mit Nina Simones „Ain’t got no – I got Life“, das im Abspann zu hören ist.
Ach, der ist von einer Regisseurin gedreht? Muss ich den wohl doch noch schauen…