Ein Déjà-vu. Eine blonde Schauspielerin spielt eine mittellose Frau, die bei ihrer Schwester einzieht. Das hat man doch schonmal gesehen. Richtig, in Woody Allens BLUE JASMINE. Und dieser Film basiert tatsächlich lose auf dem Theaterstück A STREETCAR NAMED DESIRE von Tennessee Williams, welches 1947 in New York uraufgeführt wurde und Williams einen Pulitzer-Preis einbrachte. Wenn man allerdings Original und die Allen-Kopie vergleicht, merkt man schnell, dass Woody ein herzensguter Mensch ist, denn seine Protagonistin stürzt zwar ebenfalls ab, aber bei weitem nicht so schlimm wie bei Williams. Dessen gefallener Engel heißt Blanche DeBois (Gillian Anderson) und taucht unerwartet mit Sack und Pack bei ihrer schwangeren Schwester Stella (Vanessa Kirby) in New Orleans auf. Die lebt dort mit ihrem Ehemann Stanley (Ben Foster), dem sie hoffnungslos verfallen ist. Stanley macht keinen Hehl daraus, dass er Blanche nicht leiden kann. Zudem hat er Zweifel was den Verkauf des Familienhauses Belle Rêve betrifft. Blanche behauptet das Haus verloren und nichts weiter an Besitz bei sich zu haben, als das was sie mitgebracht hat. Stanley will Papiere sehen, schließlich ist er Stellas Mann und damit auch indirekt Hauseigentümer. Die Ereignisse spitzen sich zu als Stanley vollkommen ausflippt und Blanche zu trinken beginnt um sich von ihrer misslichen Lage abzulenken. Stella gerät immer mehr in einen Gewissenskonflikt, da sie sowohl ihren Mann als auch Blanche liebt. Die begrenzten Räumlichkeiten tun ihr übriges und fachen den Konflikt zusätzlich an. Blanche stürzt sich in eine Affäre mit dem Zufallsbekannten Mitch (Corey Johnson), doch selbst er kann nicht verhindern, dass Blanche völlig den Bezug zur Realität verliert.
Blue Blanche
Regisseur Benedict Andrews inszenierte das Stück in einer rechteckigen Plattform (welche die Wohnung darstellte) auf einer Rundbühne, die von allen Seiten einsehbar ist und sich während dem Stück immer wieder leicht drehte, sodass alle Zuschauer im weiten Rund einen Einblick in die Wohnung bekamen. Laut Aussage des Regisseurs sollten die Zuschauer nicht wie üblich im Dunkeln sitzen, sondern eine Art Kokon um das Setting bilden. Dies führt aber zu Schwierigkeiten bei der Kameraarbeit, da häufig einfach Protagonisten aus dem Blickfeld verschwinden, weil sich die Bühne gerade bewegt und die Kamera ihnen nicht folgt. Weiteres Manko sind die Übergänge. Um zu symbolisieren, dass Zeit vergangen ist, wird die gesamte Bühne in rotes, grünes oder blaues Licht getaucht und dazu wahllos irgendwelche Musik gespielt, die häufig nicht zur vorherigen oder nachfolgenden Szene passt. Häufig reißt die rockige Musik den Zuschauer auch aus einer ruhigen Szene einfach heraus. Während das Storytelling in der ersten Hälfte knackig, kompakt und interessant ist, braucht es nach der Pause eine Weile bis wieder Fahrt in die Geschichte kommt.
Die drei Hauptdarsteller sind eine Wucht. Vanessa Kirby verkörpert die Zerissenheit zwischen Ehemann und Schwester gut, gerät aber angesichts der beiden Streithähne öfter in den Hintergrund, was dem Storytelling aber keinen Abbruch tut. Ben Foster schafft ebenfalls seiner Rolle Tiefe zu geben, mal als treusorgender Ehemann, mal als tickende Zeitbombe, bei der man nie weiß, wann sie hochgeht. Der absolute Wahnsinn ist Gillian Anderson, die Sci-Fi-Fans wahrscheinlich aus der Serie AKTE X kennen. Ihr Spiel überzeugt über alle Maßen. Die Selbstzweifel über ihr Leben und ihre Schönheit, ihre affektierte Ausdrucksweise, das ständige Nasenpudern und Baden, der steigende Alkoholkonsum: man vergisst bei ihr völlig, dass es „nur“ ein Theaterstück ist. Von Abscheu über ihr überkandideltes Gehabe bis Mitleid für den Absturz ihrer Figur ist alles dabei.
Wahnsinnig gute Schauspielleistung, Abzüge für die Umsetzung (4.5/6)
© National Theatre London/NT Live