Wer mich ein bißchen kennt, der weiß, dass ich eigentlich nicht wegen der Stoffe ins Theater gehe, sondern wegen der Leute vor oder hinter der Bühne. Dafür lege ich nicht selten auch mal längere Wegstrecken zurück um diesen Leuten bei der Arbeit zuzusehen. Ich habe mich wieder auf die Reise begeben, dieses Mal nach Berlin. Der Grund war Carla, meine VHS-Kurs-Dozentin. Sie hatte nämlich schon in kleiner Runde angekündigt im November ein Faultier zu spielen. Mein Ausflug nach Berlin stand ab diesem Tag fest, allein schon, weil ich mal wissen wollte, wie man ein Faultier spielt. In DER RESERVIST geht es um einen Arbeitslosen (Thorsten Hierse), der eines Tages beschließt, sich nicht mehr auf Stellenausschreibungen zu bewerben, sondern zu faulenzen. Eine innere Stimme, in Form eines Faultiers (Carla Weingarten), erklärt ihm, dass immer eine Reserve an verfügbarer Arbeitskraft vorhanden sein muss, damit die Gesellschaft funktioniert. Er erklärt sich kurzerhand zum Reservisten. Er möchte darauf warten, bis er ein Stellenangebot bekommt, dass 100% zu ihm passt. Der Jobcenter-Mitarbeiter (Helge Gutbrod) kann diese Einstellung nicht verstehen.
Die kühne Idee
DER RESERVIST des belgischen Autors Thomas Depryck nimmt einen namenlosen Protagonisten ins Zentrum seiner Geschichte. Diesen Mann, der keine Arbeit hat, weil er sagt, dass es keine Arbeit für ihn gibt. Allein diese Grundprämisse finde ich schon sehr spannend. Ihm zur Seite stehen je ein Engelchen und ein Teufelchen. Einer, der die Arbeit als etwas Sinnvolles und Wichtiges verteidigt und eine, die mehr für das Faulenzen plädiert. Und damit hat das Faultier sogar nicht ganz unrecht. Man umsorge die Arbeitnehmer mit Medikamenten und Therapie, damit sie durchhalten. „Durchhalten bis die Depression kommt.“ Besonders die Pseudo-Stellenzeigen mochte ich sehr. „Sprachkenntnisse: Deutsch, Irisch, Türkisch und Sulu. Teamfähig. Kriecht kilometerweit in einen Arsch nach dem anderen. Sind Sie kontaktfreudig – auch bei widerwärtigen Menschen?“ Das hat mich sofort wieder an die Zeit nach meinem Studium erinnert, als ich das letzte Mal auf Jobsuche war. Überhaupt steht hinter dem satirischen Text dann doch auch Wahrheit. Dass Beamte der „heiligen Dreifaltigkeit: Kippe, Kacken, Kaffee“ frönen, kann ich als ehemalige Mitarbeiterin einer Stadtverwaltung ebenfalls bestätigen.
Viel mit wenig
In diesem Jahr habe ich vermehrt Theaterstücke gesehen, die optisch sehr reduziert waren. Sie hatten wenig oder „gar kein“ Bühnenbild, aber grandiose Darsteller, die auch aus wenig viel machen konnten. So ein Stück ist auch DER RESERVIST. Ein paar Stühle, ein bißchen Zimmerpflanzen, fertig ist das Stück. Carla Weingarten, Thorsten Hierse und Helge Gutbrod fungieren nicht nur als freud’sche Einheit aus Es, Ich und Über-Ich, sondern übernehmen mehrfach andere Rollen. Darum haben in DER RESERVIST die drei Figuren auch keine Namen, sondern einfach die Nummern 1, 2 und 3. Auch die wenigen Requisiten machen große Freude. Helge Gutbrod hat die ganze Zeit eine Kaffeetasse in der Hand und schiebt diese dann in manchen Momenten gebückt und kraftlos auf dem Boden vor sich hin. Da bekommt das Wort „buckeln“ eine ganz neue Bedeutung. Genau wie auch das Wort „abhängen“, das mehr oder weniger die Tätigkeitsbeschreibung von Carla während dem Stück, ist. Thorsten Hierses Figur steht zwischen den beiden. Mal hatte ich Verständnis für seine Lage und dann auch wieder nicht. „Viel mit wenig“ macht auch Tobias Vethake, der den kompletten Soundtrack als Ein-Mann-Orchester live dazuspielt. Ich fand das schon ziemlich beeindruckend. Insgesamt war es echt ein toller Abend. Hinterher standen wir noch im Foyer und haben über das Stück und das Themenfeld „Arbeit“ diskutiert (ein untrügliches Zeichen, dass es irgendeinen Nerv getroffen hat).
Offenlegung: Nach der Veranstaltung hat mir Carla ein Glas Wein ausgegeben. Dies hatte keinen Einfluss auf meine Bewertung des Stücks. Es ist wirklich so gut. 😉
Gesehen am 23.11.2019 im Theater unterm Dach in Berlin
Liebe Franziska du hast es genau getroffen 🙂 Und jetzt ist mir auch klar woran mich das Kaffeetassenschieben erinnert hat. Danke!