72% der EU-Bürger sorgen sich um ihre persönlichen Daten. Zeit also etwas für die Bürgerrechte zu tun. Doch die Mühlen in den EU-Gremien mahlen langsam, das ist bekannt. Den filmischen Beweis liefert nun Regisseur David Bernet anhand einer europäischen Datenschutzreform. Der Film beginnt im Januar 2012 als EU-Kommissarin Viviane Reding der europäischen Öffentlichkeit einen
Vorschlag für ein neues Datenschutzgesetz vorstellt, der eine entschiedene Antwort auf die Herausforderungen des digitalen Zeitalters darstellen soll: „Personenbezogene Daten gehören der Person“. Zum Entsetzen der industriefreundlicher Politiker zum Verhandlungsführer („Berichterstatter“) gewählt, sondern der junge grüne Netzpolitiker Jan Philipp Albrecht. Der muss nun verschiedene Interessenverbände anhören und Fragen klären wie: Ist die Privatsphäre nicht ohnehin längst tot? Es treten neue Protagonisten auf den Plan, welche die unterschiedlichen Positionen zu diesen Fragen in den Prozess einbringen wollen: Der italienische Datenschutz-Anwalt Paolo Balboni, der Daten zur neuen Währung des digitalen Zeitalters erklärt. Der amerikanische Lobbyist John Boswell, der von den Verheißungen von Big Data überzeugt ist und glaubt, die Welt zu einer besseren machen zu können. Die polnische Bürgerrechtsaktivistin Katarzyna Szymielewicz und der irische Netzaktivist Joe McNamee, die in der technologischen Entwicklung eine grundsätzliche Bedrohung der Bürgerrechte erkennen sowie verschiedene Lobbyisten.
Brüsseler Mühlen mahlen langsam
Ein Jahr nachdem Reding den Gesetzesvorschlag auf den Tisch gelegt hat, tritt im Januar 2013 Jan Philipp Albrecht an die Öffentlichkeit, um seine überarbeitete Version zu präsentieren. Nicht nur die Medien sind wach geworden, sondern auch weitere Lobbyisten, sachverständige Anwälte und diverse andere Interessenvertreter intensivieren ihren Kampf um Einfluss. Albrechts politischer und wissenschaftlicher Berater Ralf Bendrath spürt den Widerstand. Das Resultat der darauffolgenden zwei Monate intensiver Debatte und Lobby-Aktivität führt zu einer Welle an Änderungsanträgen gegen den sogenannten Albrecht-Report. Obwohl sich Albrecht nach außen optimistisch gibt, dass ein baldiger Kompromiss zwischen ihm und den Vertretern der anderen Fraktionen möglich ist, ziehen sich die Verhandlungen während den sogenannten Shadow-Meetings in die Länge. Reding erlebt hauptsächlich Gegenwind aus den Mitgliedsstaaten. Im Anschluss an eine erneute ergebnislose Ratsversammlung im Juni 2013 tritt Reding vor die Presse und hält eine mahnende Ansprache, in der sie die europäischen Regierungen in die Verantwortung nimmt, endlich für die Durchsetzung des Bürgerrechts auf Datenschutz zu sorgen. In dieser Phase des Stillstands befördert schließlich eine Serie von Nachrichten das Thema Datenschutz in einen völlig neuen Zusammenhang: Im Juni 2013 enthüllt Edward Snowden die Überwachungsaktivitäten vor allem amerikanischer, aber auch europäischer Geheimdienste an den wichtigsten Schnittstellen des Internets. Diese Nachrichten erschüttern nicht nur die Gesetzgeber in Brüssel, sondern führen dazu, dass europaweit Menschen auf die Straße gehen, um gegen Überwachung, für Datenschutz und für Edward Snowden zu demonstrieren. Diesen neuen Wind in der Debatte verspüren auch Viviane Reding und Jan Philipp Albrecht, die entschlossen sind, ihn für sich zu nutzen. Fünf Monate später sind die Debatten vorüber. Unter Albrechts Leitung legen die Parlamentarier während des letzten Shadow-Meetings einen Kompromiss nach dem anderen fest, nach wenigen Stunden ist das gesamte Paket geschnürt. Auf dem Tisch liegt schließlich ein Kompromiss-Papier, mit dem die Mehrheit der Fraktionen einverstanden sind.
Jan Albrecht ist bei weitem nicht so bekannt wie Viviane Reding. Umso wichtiger scheint es, dass auch seine Leistung bekannt gemacht wird. Während Albrecht eher leise in Hinterzimmern seine Meinung vertritt, redet Reding auch mal Tacheles. Wie könne es denn sein, dass ein Gesetz, das die Bürgerrechte schwächt, nur 6 Monate braucht um verabschiedet zu werden, während ein Gesetz, dass die Rechte stärkt, nach nicht mal 18 Monaten fertig ist, fragt sie. In einfachstem English erklärt Reding, nicht ohne einen Hauch von resigniertem Unterton, wie das so läuft in Brüssel. Langsam! Bernet durfte die Protagonisten auch im Inneren der EU-Gebäude filmen. Die Kamera sitzt mit im Plenarsaal, in Sitzungsräumen, fliegt durch Flure, dokumentiert den Austausch von Visitenkarten. Immer wieder wird das geschäftige Treiben der Politiker, Bürgerrechtler und Lobbyisten gegengeschnitten mit dem was draußen passiert. Fussballspielende Kinder, Demonstrationen, Musiker und andere Kunstaktionen. Brüssel ist ein Mikrokosmos, der aber Auswirkungen auf alle EU-Bürger hat.
Leider konzentriert sich Bernet nicht auf einige wenige Protagonisten, sondern portraitiert insgesamt sieben Leute, die teils auch gleiche Ansichten haben. Die Vertreter der Pro-Datenschutzauflockerung kommen daher etwas zu kurz. Der Fokus liegt eindeutig nicht auf der Notwendigkeit des Gesetzes, sondern vielmehr darum wie Demokratie und Kompromisse auf europäischer Ebene funktioniert. Wie jetzt der Gesetzentwurf im Groben aussieht, wird auch nicht erklärt. In der zweiten Hälfte hängt der Film in der Mitte etwas durch. Man könnte dahinter eine Absicht des Regisseurs vermuten, da zu diesem Zeitpunkt auch die Verhandlungen ins Stocken geraten. Weiterer Mini-Kritikpunkt: die eingeblendete Schrift wirkt sehr unruhig und inkonsistent, hat teilweise auch einen anderen Schrifthintergrund. Nicht so wuchtig und stark wie CITIZENFOUR, aber eine solide Doku mit sympathischen Protagonisten zu einem wichtigen Thema unserer Zeit.
Hängt in der Mitte durch (4.5/6)
Trailer: © Farbfilmverleih