Urteile (revisited) – Nach dem Prozess (2021)

Theater war schon immer dazu da um Menschen eine Stimme zu geben, denen nicht zugehört wird. Wie wichtig diese Qualität des Theaters ist, zeigt sich bei URTEILE (REVISITED). Dieses Stück ist gewissermaßen eine Fortsetzung zu URTEILE, das 2014 im Marstall uraufgeführt wurde. Als erstes Stück im deutschsprachigen Raum erzählte es aus der Perspektive der Hinterbliebenen der Mordopfer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Im Zentrum stehen dabei die Bekannten und Angehörigen des am 29. August 2001 ermordeten Habil Kılıç und des am 15. Juni 2005 ermordeten Theodoros Boulgarides. Anstatt trauern zu dürfen, wurden die betroffenen Familien von Sicherheitsbehörden, Medien, aber auch von ihrem unmittelbaren Umfeld jahrelang zu Unrecht verdächtigt. Inzwischen sind viele Jahre vergangen. Einzelne NSU-Unterstützende wurden verurteilt. Es gab auch einen Untersuchungsausschuss. Dennoch fällt die Sicht der Hinterbliebenen im Jahr 2021 sehr pessimistisch aus.

Szenenbild aus URTEILE REVISITED - Myriam Schröder leiht der Freundin der Ehefrau ihre Stimme. - © Birgit Hupfeld
Myriam Schröder leiht der Freundin der Ehefrau ihre Stimme. – © Birgit Hupfeld

Kein Schlusstrich!

Fortsetzungen sind im Theater eher ungewöhnlich. Dass es aber gerade bei diesem Thema eine umgehende Aufarbeitung braucht, macht der Titel eines bundesweiten Theaterprojektes mit dem Titel „Kein Schlussstrich!“ klar. Im Zeitraum vom 21. Oktober bis zum 7. November 2021 feierten Stücke Premiere, die sich mit dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) beschäftigen. Auch zehn Jahre nach dessen Selbstenttarnung sind die Hintergründe des NSU-Komplexes nach wie vor ungeklärt. Warum haben die Sicherheitsbehörden einen rechtsextremen Hintergrund überhaupt nicht in Betracht gezogen? Warum haben auch die Medien die Polizeimeldungen nicht hinterfragt? Daher macht URTEILE (REVISITED), also das Zurückblicken und vielleicht auch Neu-Einordnen durchaus Sinn.

Szenenbild aus URTEILE REVISITED - © Birgit Hupfeld
© Birgit Hupfeld

Bewegende Eindrücke

Schon in ihrem „ersten Teil“ wählte Christine Umpfenbach die Form des Reenactments. Nun führt sie das mit einer neuen Besetzung weiter. Was passiert ist und wer gerade spricht, wird mittels Texteinblendung erklärt. Entweder auf der überdimensionalen Leinwand, die über der Bühne hängt oder mittels Texttafel am Boden. Auf konkrete Namen wird in der Regel verzichtet. „Freundin der Ehefrau“, „Bruder“, „Polizeireporter“, „Politiker“ – mehr braucht es auch gar nicht, um das Gesagte einzuordnen. Viel mehr wirken die Worte. Von der Oma, die zusammen mit der 10-jährigen Enkelin bei der Polizei sitzt und solange kooperiert, bis die Beamten von der Enkelin einen Speicheltest fordern und das Kind die Oma fragt, ob die Beamten denn vermuten, ob sie ihren eigenen Vater umgebracht hat. Davon, wie das Umfeld plötzlich die Angehörigen verdächtigt und den Falschmeldungen in den Medien glaubt.

Szenenbild aus URTEILE REVISITED - Der Priester (Delschad Numan Khorschid) versucht dem Bruder (Thomas Reisinger) beizustehen. - © Birgit Hupfeld
Der Priester (Delschad Numan Khorschid) versucht dem Bruder (Thomas Reisinger) beizustehen. – © Birgit Hupfeld

Einblicke in zerstörte Leben

Was für ein Rattenschwanz an Ereignissen mit diesen Morden ausgelöst wurde, zeigt URTEILE (REVISITED) immer wieder. Der Bruder eines Mordopfers verließ aufgrund jahrelanger Verdächtigungen seine Wahlheimat München und kehrte in sein Heimatland zurück. Entschuldigt haben sich wenige, auch als klar war, wer die wahren Täter waren. Desweiteren legen die Recherchen ein umfangreiches Fehlverhalten insbesondere bei der Polizei und den Medien offen. Trotz oder vielleicht auch gerade wegen seiner reduzierten Form, macht der Abend betroffen. Die 80-minütige Vorstellung vergeht, bis auf wenige Ausnahmen, wie im Flug. Und ich hätte gerne noch mehr Meinungen gehört. Es bleibt ein fader Beigeschmack. Viele Unterstützende des NSU sind immer noch nicht gefasst und verurteilt.

9/10

Bewertung: 9 von 10.

Gesehen am 25.02.2022 im Marstall. Im Anschluss fand eine Diskussionsrunde von Bayern2 statt, die man → in der BR Audiothek nachhören kann. URTEILE (REVISITED) – NACH DEM PROZESS läuft momentan immer noch am Residenztheater.

Trailer: © Residenztheater München

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