THE ROCKY HORROR PICTURE SHOW hat lange zu meinen größten Bildungslücken gehört. Ich habe den Film nie gesehen, auch wenn ich wusste, dass er immer noch eine große Fanbase hat und als Klassiker gilt. Aber Bildungslücken sind ja dazu da, dass man sie schließt. Daher bin ich an Silvester 2024 nach St. Gallen gefahren und habe mir nicht den Film, aber ein deutschsprachiges Musiktheaterstück mit englischen Songtexten angeschaut. In THE ROCKY HORROR SHOW erleben das frisch verlobte Paar Brad (Jonathan Fiebig) und Janet (Pascale Pfeuti) in einer stürmischen Nacht eine Reifenpanne. Auf der Suche nach Hilfe landen sie im mysteriösen Schloss des exzentrischen Wissenschaftlers Dr. Frank’N’Furter (Yascha Finn Nolting) und dessen Gefolgschaft. Der möchte mithilfe der Wissenschaft den perfekten Mann bauen und stellt den beiden kurzerhand seine Schöpfung namens Rocky (Michael B. Sattler) vor. Doch der entwickelt recht schnell ein Eigenleben.
Ausgelassene Stimmung
Auch wenn nicht alle Lieder meinen Geschmack getroffen haben, hat mir der Abend wirklich gut gefallen. Wie die Filmvorlage lebt auch die Theateradaption besonders von der aktiven Einbindung des Publikums. Für 12 CHF können die Zuschauerinnen und Zuschauer im Vorfeld eine „Mitmachtüte“ erwerben, die alle notwendigen Requisiten für die traditionellen Zuschauerinteraktionen enthält. Von Wasserpistolen für die Regensimulation bis hin zu Spielkarten, die im richtigen Moment zum Einsatz kommen – das Publikum wird zum integralen Bestandteil der Show. Besonders das Ausbuhen des Erzählers gehört zu den langjährigen Traditionen, die auch an diesem Abend das Gemeinschaftsgefühl im Theatersaal stärken. Da ich völlig ohne Kenntnis dieser Traditionen in den Abend gestartet bin, war ich im ersten Moment etwas irritiert, hatte aber innerhalb kürzester Zeit auch große Lust mitzumachen. Und den Spaß am Stoff hatten sichtlich auch die Band und die Darstellerinnen und Darsteller auf der Bühne.
Nürnberg lässt schön grüßen
Wer mich kennt, weiß, dass ich nicht unbedingt nach Abo-Terminen oder nach dem Inhalt des Stücks ins Theater gehe. Mir geht es immer um die beteiligten Personen. Und bei der ROCKY HORROR SHOW sind tatsächlich zwei Leute beteiligt, die ich schon vom Staatstheater Nürnberg kenne. Regisseur Christian Brey hat dort bereits mehrere Stücke inszeniert und in seiner Produktion von THE LEGEND OF GEORGIA MCBRIDE auch schonmal Schauspieler Yascha Finn Nolting eine zentrale Rolle gegeben. Und wenn man beide Stücke kennt, wirkt Noltings Frank’N’Furter wie die logische Weiterentwicklung von Georgia McBride. Beide Figuren sind Außenseiter, beide singen wunderschön, beide wissen, wie man das Publikum verführen kann und – holy shit – beide laufen auf High Heels besser als so manche Frau. Ich bin da jedes Mal total beeindruckt.
Zeitloser Kult-Stoff
Die St. Galler Inszenierung beweist eindrucksvoll, warum die ROCKY HORROR SHOW auch nach fast 50 Jahren seit der Filmpremiere nichts von ihrer Faszination eingebüßt hat. Die Themen sexuelle Selbstbestimmung, Geschlechteridentität und gesellschaftliche Konventionen sind heute genauso aktuell wie damals. Auch die Erschaffung künstlichen Lebens wie schon in der Vorlage von FRANKENSTEIN sind in der unterhaltsamen Geschichte enthalten. Die St. Galler Inszenierung macht definitiv Lust darauf, sich auch die Kinofassung anzusehen. Und glücklicherweise wohne ich ja auch in der richtigen Stadt dafür. Denn seit über 45 Jahren läuft THE ROCKY HORROR PICTURE SHOW wöchentlich im Münchner Kino Museum Lichtspiele. Jeden Freitag und Samstag um 23 Uhr. Und ich kann’s kaum abwarten mir auch nochmal den Film anzusehen.
Gesehen am 31. Dezember 2024 im Theater St. Gallen
9/10