Es hätte eine 08-15-Dokumentation über das Leben in Baltimore, Maryland, werden können. Eine Dokumentation, in der die Einwohner aus ihrem Alltag berichten. Regisseur Theo Anthony macht zwar genau das, bedient sich dabei aber eines Kniffs. Alle Einwohner Baltimores haben nämlich eine Sache gemeinsam. Sie haben ein besonderes Verhältnis zu Ratten. Speziell in den ärmeren Stadtteilen sind die Ratten zuhause. Dann rufen geplagte Hausbesitzer den Rattenbeauftragten von der Stadtverwaltung an, der dann kommt und Gift versprüht. Der meint lapidar, in Baltimore gäbe es kein Rattenproblem, sondern ein Menschenproblem. Die Wechselwirkung aus Ratte und Mensch wird an vielen Stellen deutlich.
Zum einen gibt es die Jäger. Gezeigt wird beispielsweise ein Waffennarr, der im Grunde das lebendig gewordene Amerikaner-Klischee verkörpert. Er hat verschiedenste Waffen mit denen er in seinem Garten auf Rattenjagd geht. Nicht nur zum schießen, sondern auch Blasrohre mit giftigen Pfeilen. Auch zwei andere Männer legen sich in der Nacht auf die Lauer. Ihr Köder: Erdnussbutter an einem Angelhaken. Ihre Waffe: ein Baseballschläger. Isst die Ratte den Köder, dann holt der erste die Angel ein und der andere erschlägt mit dem Baseballschläger die Ratte. Alle drei Männer eint ein Schicksal: Sie haben selten Glück und erwischen selten ein Tier. Während die beiden Männer ihre Mordwerkzeuge in die Kamera halten, laufen im Hintergrund Ratten herum. Nicht nur eine. Mehrere. Es wirkt wie der blanke Hohn. Und ist wirklich lustig. Auf der anderen Seite sind die Rattenliebhaber, die auch nicht davor zurückschrecken ein Wohnzimmer „rattenfreundlicher“ zu gestalten, damit ihre Lieblinge auch mal frei in der Wohnung herumlaufen können. Sie dürfen alles. Kabel anknabbern, auf der Schulter oder dem Kopf ihres Herrchens oder Frauchens herumturnen. Sie sind die Privilegierten, die Verhätschelten.
Die Ratte und die Stadt
Theo Anthony stellt das Rattenproblem in einen größeren Kontext. Er beschreibt wie die Geschichte der Stadt auch mit den Ratten zusammenhängt. Wie wenig sich im Vergleich zu den 50er/60er-Jahren in der Stadt verändert hat. Karten und ein Computerspiel mit den Fassaden von Baltimore spielen hier ebenfalls eine Rolle. Parallel wird von den aktuellen Zuständen, der Rolle der Ratte für die Wissenschaft und dem Computerspiel hin- und hergesprungen. Wer eine chronologische Abfolge erwartet, wird enttäuscht.
Trotz seines einzigartigen Ansatzes und einer außergewöhnlichen Perspektive entstehen ab und an Längen und der Film verpasst mehrere Möglichkeiten den Film abzuschließen. Auch die Wichtigkeit einzelner Protagonisten ist nicht immer ganz herausgearbeitet. Die erste Szene des Films ist simpel, aber kraftvoll. Eine Ratte ist in eine Mülltonne gekrabbelt und kommt nun nicht mehr heraus. Die Kamera filmt in einen Spalt und beobachtet die Ratte wie sie versucht, sich selbst zu befreien. Im Laufe des Films zieht Anthony hier Parallelen mit den städtebaulichen Entscheidungen der Stadt und dem Zusammenleben von Menschen. Fast so als wolle er sagen, dass sich Mensch und Ratte gar nicht so unähnlich sind.
5/6 bzw. 8/10
Trailer: © International Film Festival Rotterdam