Die Erwartungen waren hoch. Zwei Oscars gab es. Einen für das beste Drehbuch, einen für Casey Affleck als besten Schauspieler. Von einem “Meisterwerk” wurde gesprochen. Mal am Rande, diese Formulierung nehme ich inzwischen nicht mehr ernst, denn sie trifft selten wirklich zu. Auch den Oscar für Casey Affleck, der sich gegen Ryan Gosling (LA LA LAND) und Denzel Washington (FENCES) durchgesetzt hat, darf man kritisch betrachten. Oder einfach → nicht klatschen wie Brie Larson.
Affleck spielt Lee Chandler, einen Hausmeister in einem Apartmentkomplex in Quincy bei Boston. Obwohl er seinen Job gut macht, beschweren sich die Mieter über seine mangelnde Freundlichkeit. Nach Feierabend besucht er Bars, wo er sich dann auch mal mit anderen Barbesuchern grundlos prügelt. Lee erfährt, dass sein Bruder Joe (Joe Chandler) an Herzschwäche gestorben sei. Sofort fährt Lee in seinen Heimatort Manchester-by-the-Sea um sich um den Nachlass seines Bruders und dessen Sohn Patrick (Lucas Hedges) zu kümmern. Vor Ort erfährt er, dass Joe ihn zu Patricks Vormund bestimmt und dazu alle erforderlichen finanziellen Vorkehrungen getroffen hat. Patrick hat zwei Freundinnen gleichzeitig, spielt in einer Band und engagiert sich beim Schul-Eishockeyteam. Deshalb möchte er nicht zu Lee nach Boston ziehen. Andererseits erträgt Lee es nicht, in Manchester zu sein, da ihn seine alte Heimat zu sehr an seine Exfrau Randi (Michelle Williams) und einen schweren Schicksalsschlag erinnert.
Kühle Brise
Der Schnee ist zentimeterhoch und wird durch das kalte Küstenstädtchen geweht. Eine Sequenz, die wir immer wieder sehen, in MANCHESTER BY THE SEA. Diese düstere, karge Stimmung passt gut zur Handlung. Alle Figuren sind „echt“, kantig und alles andere als perfekt: der Teenager hat etwas mit zwei Mädels gleichzeitig am Laufen, der Hausmeister trinkt aus Schuldgefühlen und gerät in Kneipenschlägereien, die Ex-Frau, die Mutter seiner drei Kinder, ist frischgebackene Mutter und inzwischen mit einem anderen Mann zusammen. Vom Schauspielerischen her gibt es da wirklich wenig zu bemängeln. Durch die Bank wird hier gut – soll heißen mit Tiefgang – gespielt. Die Rechtmäßigkeit von Casey Afflecks Oscarnominierung- und gewinn darf man aber ruhig anzweifeln. Die beste Leistung des Jahres war es sicher nicht.
Hohe Erwartungen treffen auf die kalten Tatsachen
MANCHESTER BY THE SEA mangelt es des Öfteren an Spannung. Besonders schade ist, wenn die Geschichte unerwartet mitten in einem interessanten Moment absackt und einfach weiterspringt. Vielleicht lag es auch an den glühenden Kritiken, die meine Erwartungshaltung übermäßig hoch werden ließ. Dabei hat der Film durchaus zauberhafte und dramatisch-komische Momente, wenn etwa der Leichnam von Kyle nicht beerdigt werden kann, weil der Boden gefroren ist. Aber diese Highlights reichen nicht ganz für die Auszeichnung „Meisterwerk“. Und jetzt, ein halbes Jahr nachdem ich den Film zum ersten Mal gesehen habe, sind die Handlung und die Bilder weitestgehend verblasst. Mich hat der Film nicht besonders berührt und ich würde ihn auch nicht noch ein zweites Mal ansehen. Es fehlen die drastischen Bilder, die Momente, die bleiben.
4/6 bzw. 7/10
Trailer: © Universal Pictures Germany
Da ich „Fences“ nicht gesehen habe, kann ich nicht vollständig behaupten, das Casey Affleck den Oscar verdient hat. Aber gegenüber Gosling in „La La Land“ gewinnt sein Schauspiel definitiv.