Das Regiedebüt von Jan-Ole Gerster OH BOY! hat bei mir damals einen äußerst positiven Eindruck hinterlassen. Daher war ich sehr auf den Nachfolgefilm gespannt. Wie schon im Vorgänger folgt man hier dem Protagonisten quer durch die gesamte Stadt. Das Subjekt der neusten Gerster‘schen Charakterstudie ist Lara Jenkins (Corinna Harfouch). Die feiert eigentlich ihren 60. Geburtstag, aber Grund zur Freude gibt es nicht. Sie ist geschieden und raucht zu viel. Noch dazu gibt ihr Sohn Viktor (Tom Schilling) auch noch ein großes Solo-Klavierkonzert. Doch Viktor hat ein schwieriges Verhältnis zu seiner Mutter. Er hat deshalb nur seinen Vater Paul (Rainer Bock) und dessen neue Lebensgefährtin eingeladen. Doch Lara lässt sich nicht abwimmeln. Sie kauft die letzten freien Karten und verschenkt diese an alte Weggefährten und zufällige Bekanntschaften.
Gesten studieren
Viel geredet wird in LARA nicht. Auf dem Silbertablett wird einem die Geschichte auch nicht serviert. Der Zuschauer ist aufgefordert, eigenständig die präsentierten Fragmente zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Es gilt Gesichtsausdrücke und andere Gesten zu deuten. Zu interpretieren gibt es vier, denn Lara ist keine sympathische, glattgebügelte Figur – und gerade das hat mir gefallen. Immer wieder trifft sie auf Weggefährten, die sie an vergangene (Misse-)Taten erinnern. Auch der Geburtstag, das Immer-wieder-daran-Erinnertwerden, dass man keine junge Frau mehr ist, kitzelt die Reaktionen geradezu heraus. In LARA geht es um Reue und verpasste Chancen, aber auch um die Konstellation zwischen einer Mutter und dem Sohn, der zum Erfolg erzogen wurde und dennoch nie den hohen Ansprüchen genügen kann. Und von einer Frau, die zu spät erkennt, dass sie sich lieber über Zustimmung aus dem Außen definiert anstatt an die eigenen Fähigkeiten zu glauben.
Harfouch ist eine Wucht
Für eine derart widersprüchliche, starke und zugleich zerbrechliche Rolle, braucht es eine großartige Schauspielerin. Ich kann mir – rückblickend betrachtet – auch niemand anderen in dieser Rolle vorstellen als Corinna Harfouch, die einfach wahnsinnig gut spielt. Auch Tom Schilling, der in OH BOY! die Hauptrolle spielte, glänzt hier als Sohn Victor. LARA ist kein aufgeregter Film. Manch einer wird es langweilig finden, mit dieser Frau, die nicht erst durch ihren Geburtstag, mit ihrer Lebenskrise konfrontiert ist, durch Berlin zu laufen. Wer sich allerdings über Filme freut, die den Zuschauer fordern und nicht alles bis ins letzte Detail auserzählen, bekommt mit LARA eine grandios erzählte Charakterstudie.
5/6 bzw. 8.5/10
Der Film ist bereits auf DVD und Blu-ray für die Heimkino-Sammlung erschienen. LARA ist momentan auch im Amazon-Prime-Abo enthalten. (Stand: August 2020)