Wenn ich das Wort SOMMERNACHTSTRAUM höre, dann denke ich sofort an Nicolas Hytner und seine immersive Zirkus-meets-Rockkonzert-Inszenierung im Bridge-Theatre in London. Ich denke da an Oliver Chris und Hammed Animashaun, die verliebt in einem Bett miteinander tanzen. An die Schauspielgruppe „Mechanicals“, die → sich ein Handy aus dem Publikum holen und dann ein Selfie damit machen. Und an den sympathischen Puck. Wohlig warme Erinnerungen. Stephan Kimmigs Interpretation, die aktuell am Residenztheater zu sehen ist, ist – ja, das kann man schon so sagen – das komplette Gegenteil von einem kunterbunten Spektakel. Die Vermählung von Hippolyta und Theseus findet nicht im antiken Griechenland statt, sondern ist die nüchterne Zusammenlegung der beiden Autohäuser von Heidrun Hippolyta Klein (Lea Ruckpaul) mit Theseus Wesselmann (Lukas Rüppel). Anstatt in den Wäldern herumzugeistern, treffen sich vier Teenager im Großstadt-Dschungel. Lysander (Vincent zur Linden) und Hermia (Linda Blümchen) sind schwer verliebt, werden aber von Demetria (Vassilissa Reznikoff) verfolgt, die wiederum vom „schönen Helmut“ (Niklas Mitteregger) umworben wird. Parallel dazu möchte der Elfenkönig Oberon (Lukas Rüppel) seine Frau Titania verzaubern. Mithilfe seines Gehilfen Puck (Max Rothbart) und durch die Kraft eines magischen Lippenstifts entsteht schließlich ein chaotisches Liebeskarussell.
Eine Reise in die 80er
Wirklich alles an dieser SOMMERNACHTSTRAUM-Inszenierung schreit „Berlin“ und „80er Jahre“ – vom Bühnenbild von Katja Haß bis hin zu den Kostümen von Anja Rabes. Vokuhila-Frisuren, Netzshirts und Netzstrumpfhosen dominierten das Bild. Alles ist edgy und ein bißchen runtergerockt, aber auf eine coole Art. Die magische Blume bei Shakespeare wird bei Kimmig zum verzauberten, roten Lippenstift. Max Rothbart singt verträumt „I ain’t happy, I’m feeling glad – I got sunshine in a bag – I′m useless but not for long – The future is coming on“ aus dem Lied „Clint Eastwood“ der Gorillaz, das zwar erst 2001 erschienen ist, aber die hypnotische Atmosphäre gut einfängt, in der Realität und Traumwelt verschwimmen. Die zeitlose Komödie von Shakespeare erhält so einen überraschend urbanen Anstrich. Alles ist düster, eklig und – aus Ermangelung einer besseren Beschreibung – sehr deutsch.
Starkes Ensemble und überraschende Wendungen
Dieses Düstere zeigt sich auch an der Darstellung des Esels. Im Laufe der Geschichte wird Titania verzaubert und verliebt sich in den Esel. Florian von Manteuffel verkörpert die Rolle mit hautfarbener Strumpfhose, weißen Glibber auf dem ganzen Körper, strähnigen Haaren und schiefen Zähnen. Man möchte alles, nur nicht in seiner Nähe sein. Dann doch lieber Zeit verbringen mit von Manteuffels Klaus Zettel, einem übermotivierten Hobbyschauspieler, der am liebsten alle zu vergebenen Rollen selbst spielen möchte. Hier hat er in jedem Fall mehr Sympathien auf seiner Seite. Wie übrigens auch Linda Blümchen als Hermia, die sich in einer besonders emotionalen Szene Szenenapplaus verdiente. Besonders auffallend war die Regie-Entscheidung, aus Helena „den schönen Helmut“ zu machen und Demetrius in eine Frau zu verwandeln. Shakespeare, der auch in anderen Stücken schon die Fluidität von Geschlecht und Sexualität thematisiert, hätte das wahrscheinlich gefallen.
Dreckig und roh
Die Zeit bis zur einzigen Pause nach 1,5 Stunden verging wie im Flug. Kimmigs Inszenierung lässt dann nach der Pause aber etwas nach. Tatsächlich bekommt man nach einer Weile auch das Gefühl, dass in dieser Produktion nicht alle Schauspielerinnen und Schauspieler komplett ausgelastet sind. Während die einen glänzen, verschwinden die anderen ein bißchen zu sehr in Nebenrollen, die eigentlich keine sind. Insbesondere Lukas Rüppel und Lea Ruckpaul als neue Autohausbesitzer fand ich schwach. Das liegt aber nicht etwa an der Schauspielkunst der beiden, sondern einfach an der Inszenierung, die nicht allen Rollen die gleiche Wichtigkeit gibt. Diese Neuinterpretation ist ein Experiment, das nur in Teilen wirklich funktioniert. Der Beat und Drogenrausch der Clubnacht wird hier zur Metapher für die Verwirrungen der Liebe. Natürlich weiß ich, dass es unfair ist beide Produktionen zu vergleichen, aber Hytners buntes Rockkonzert hat mich deutlich mehr angesprochen als Kimmigs urbane Tristesse.
Gesehen am 6. Oktober 2024 im Residenztheater. Wer sich die Version von Nicolas Hytner anschauen möchte, kann dies aktuell über → den Streamingdienst NTatHome tun (Stand: Dezember 2024).
7/10