Du musst dich entscheiden (2024)

Es ist ein Phänomen, das Elias Eilinghoff noch aus seiner Zeit am Münchner Residenztheater kennen dürfte. Während Vorstellungen von DIE DREI MUSKETIERE kam es regelmäßig vor, dass Leute aufgestanden und gegangen sind. So war das nun wieder, nur dieses Mal in Wien im Volkstheater, bei DU MUSST DICH ENTSCHEIDEN. Und ich kann es zum Teil sogar verstehen. Im Zentrum des Stücks steht die namensgebende Game Show. Sieben Kandidatinnen und Kandidaten sind nach Wien gereist und wollen zwei Millionen Euro Preisgeld abzuräumen. Da sind Maik (Fabian Reichenbach) und Moritz (Frank Genser) aus Graz, Layla (Paula Carbonell Spörk) aus Berlin und Wien, der Ebenauer Ferdinand (Günther Wiederschwinger) aus Pressingberg bei Hammerboden in Kärnten, Nilufar (Hasti Molavian) und Rico Schultze (Uwe Schmieder) aus dem thüringischen Kleinroda in Deutschland und schließlich Kyung-Hye Song (Kaoko Amano), Musikerin mit koreanischen Wurzeln aus Salzburg. Das Moderatorenduo Michelle Pelosi (Anke Zillich) und Tommy McDonalds (Elias Eilinghoff) stellen dem Publikum mehrere Fragen, die man mittels Handy-Voting beantworten kann. Die Kandidatinnen und Kandidaten müssen in 1, 2 oder 3-Manier das Abstimmungsverhalten im Saal erahnen. Für jede Übereinstimmung gibt es Bälle und je mehr Bälle man hat, desto mehr Geld gibt es.

Szenenbild aus DU MUSST DICH ENTSCHEIDEN - Volkstheater Wien - Moderatorenduo Tommy McDonalds (Elias Eilinghoff) und Michelle Pelosi (Anke Zillich) - © Marcel Urlaub
Moderatorenduo Tommy McDonalds (Elias Eilinghoff) und Michelle Pelosi (Anke Zillich) – © Marcel Urlaub

All opinions welcome

Man versteht, woher Regisseur Kay Voges diese Grundidee herhatte. Wir leben in Zeiten, in denen gerade auch durch die sozialen Medien suggeriert wird, dass Meinungen wichtiger sind als Fakten. Und durch das Internet kann jeder seine Meinung in die Welt hinausposaunen, völlig egal wie plausibel oder abstrus diese ist. Dass diese Mehrheitsmeinung aber nicht immer recht hat, kommt tatsächlich auch in DU MUSST DICH ENTSCHEIDEN zur Sprache. Es wird nämlich eine Wissensfrage abgefragt, zu der es tatsächlich eine richtige Antwort gibt. Welchen Film Harvey Weinstein nicht produziert hat, wird von der Mehrheit im Publikum falsch beantwortet. Trotzdem gibt es Punkte für die Kandidat:innen, die auf dem Feld der Mehrheitsmeinung standen. Die Kandidatin, die auf dem Feld mit der richtigen Antwort stand, protestiert vergeblich. Hier zählen nicht mehr die Fakten, hier zählt nur noch das Gefühl der Mehrheit.

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Spaß auf der Bühne

Elias Eilinghoff hat sichtlich Spaß an der Rolle des schleimigen Moderators und kommentiert an diesem Abend auch das Abstimmverhalten im Saal. „Oh, Sie mögen Shakespeare-Stoffe, die gegenwärtig interpretiert werden? Dann kenn ich einen idealen Ort für Sie. Das Burgtheater! Ist hier gleich um’s Eck.“ Shakespeares KÖNIG LEAR hatte am Tag der Aufführung tatsächlich Premiere im Burgtheater, daher war die Aussage nichtmal falsch. Auch Anke Zillich geht in der Rolle der Showmasterin sichtlich auf. Die Kostüme der Kandiatinnen und Kandidaten erinnern optisch an die Kostüme der Gameshow-Kandidaten aus dem Film RUNNING MAN (1987). In RUNNING MAN bestand die Show allerdings daraus verurteilte Kriminelle von professionellen Menschenjägern jagen zu lassen. Das Ensemble hat sichtlich Spaß an den recht klischeebehafteten Rollen. Die Technik funktionierte ebenfalls tadellos. Man kann nach der Veranstaltung auch nochmal alle Umfrageergebnisse zu den einzelnen Fragen ansehen.

Szenenbild aus DU MUSST DICH ENTSCHEIDEN - Volkstheater Wien - © Marcel Urlaub
© Marcel Urlaub

Ist alles wirklich nur ein Spiel?

Die Frage, die sich mir während dem Abend gestellt hat, ist, wie ernsthaft das Publikum tatsächlich die Fragen beantwortet. Oder ob die Umfrageergebnisse manipuliert werden (→ gefälschte Beliebtheitswerte sollen in Österreich ja schonmal vorgekommen sein). Beim Fernsehen – gerade auch im Segment Reality TV – wird gerne mal nachgeholfen und getrickst. Aber um tatsächliche Wahrheiten geht es an diesem Abend sowieso nicht. Es geht um die gefühlte Wahrheit einer Masse. Ein weiteres Störgefühl hatte ich mit dem grundsätzlichen Konzept der Gameshow, bei der es nur drei Antwortmöglichkeiten gab. Die Wahrheit ist in der Regel zu komplex um auf drei Antwortmöglichkeiten eingedampft zu werden. Zudem ist es auch unrealistisch in 10 Sekunden auf Fragen wie „Soll die Sterbepflicht ab 90 eingeführt werden?“ oder „Hat Putin den Tod verdient?“ schnell eine Meinung aus drei Antwortmöglichkeiten auszuwählen ohne irgendeine Form von Faktenlage oder Zusatzinfos zu bekommen.

Szenenbild aus DU MUSST DICH ENTSCHEIDEN - Volkstheater Wien - © Marcel Urlaub
© Marcel Urlaub

Vorgetäuschte Interaktivität

Der Schluss ist gleichermaßen spektakulär und auch wieder nicht. Die Moderatorin muss sich angesichts des Blutverlusts eines Kandidaten übergeben und verschwindet backstage. Die Kandidaten bleiben moderationslos zurück. Zwei Sängerinnen singen eine abgewandelte Form von „Freed from Desire“ von Gala. Kurz darauf ergießt sich ein Wasserfall aus Spielbällen über ihnen und die Kandidatinnen und Kandidaten werfen die Bälle ins Publikum. Das ist dann aber auch das Interaktivste am Abend. Denn weil die Schauspielerinnen und Schauspieler immer alle drei Antwortfelder besetzen und nicht etwa alle auf ein einziges Feld hüpfen, kriegt immer irgendwer ein paar Bälle. Am Ende des 2,5-stündigen Abends gibt es keinen Gewinner der 2 Millionen Euro. Es sind auch keiner der Kandidatinnen oder Kandidaten vorzeitig ausgeschieden. Letzten Endes hat das Publikum überhaupt keinen Einfluss auf den Ausgang der Geschichte. Es ist eine Meinungsabfrage ohne Konsequenzen. Und das fühlt sich unbefriedigend an.

Gesehen am 10. November 2024 im Volkstheater Wien

6/10

Bewertung: 6 von 10.

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