A Mirror (2024)

Bei meinem letztjährigen London-Besuch bin ich direkt am ersten Reisetag im Theater eingeschlafen. Daher hatte ich dieses Jahr meine Vorbehalte wieder direkt am ersten Reisetag ein Stück anzuschauen. Ich bin aber froh, dass wir das gemacht haben, denn A MIRROR war ein guter Einstieg. In A MIRROR wird das Publikum anfangs in die Irre geführt. Zunächst glaubt man, bei der Hochzeit von Leyla und Joel anwesend zu sein. Diese Illusion wird schnell durchbrochen, als klar wird, dass es sich in Wahrheit um ein Theaterstück handelt. Die Hauptfiguren sind der stellvertretende Kulturminister Čelik (Jonny Lee Miller), der ein Stück prüft, das vom Automechaniker Adem (Samuel Adewunmi) eingereicht wurde. Adems Werk, basierend auf Gesprächen seiner Nachbarn über Tabuthemen wie Sex und Alkohol, stößt zunächst auf Ablehnung. Doch Čelik erkennt Adems Potenzial und fördert ihn. Zusammen mit der jungen Beamtin Mei (Tanya Reynolds) und dem regierungstreuen Dramatiker Bax (Geoffrey Streatfeild) möchte Čelik Adem zu einem hilfreichen Werkzeug der Staatspropaganda machen.

Szenenbild aus A MIRROR - Stellvertretender Kulturminister Čelik (Jonny Lee Miller) und die Beamtin (Tanya Reynolds) - Photo by Marc Brenner
Stellvertretender Kulturminister Čelik (Jonny Lee Miller) und die Beamtin Mei (Tanya Reynolds) – Photo by Marc Brenner

Ist eine Nacherzählung schon Kunst?

Die Autorin Sam Holcroft hat sich reichlich bei George Orwell bedient. A MIRROR ist eine modernisierte Fassung von Orwells 1984, die thematisch Zensur, die Freiheit der Kunst und die Rolle des Geschichtenerzählers tiefgründig beleuchtet, die sich leider etwas viel Zeit lässt um auf den Punkt zu kommen. Ganz grundsätzlich wird auch die Frage nach dem Kunstbegriff gestellt. Weil Adem kaum kreative Eigenleistung zeigt und einfach nur das aufschreibt, was er durch die dünnen Wände seiner Unterkunft von seinen Nachbarn mitbekommt, stellt sich auch Čelik die Frage, ob das überhaupt als Theaterstück durchgehen kann. Sein Urteil lautet schließlich „A Mirror is not a painting“. Es reicht ihm nicht, nur die Realität zu spiegeln, sondern möchte diese in einen größeren Kontext zu bringen.

Szenenbild aus A MIRROR (2024) - Mei (Tanya Reynolds) und Adem (Samuel Adewunmi) - Photo by Marc Brenner
Mei (Tanya Reynolds) und Adem (Samuel Adewunmi) – Photo by Marc Brenner

Immersive Elemente und ein unvorhergesehener Twist

A MIRROR bindet das Publikum mehr mit ein als man das von Theaterstücken sonst so kennt. Es ist ein ein immersives Erlebnis. Lichter im Publikumsraum gehen an und aus und das Publikum wird aufgefordert Textstellen mitzusprechen. Am Ende gibt es sogar eine inszenierte Stürmung des Theaters durch eine staatliche Behörde. Diese Elemente verstärken das Gefühl der Dringlichkeit und Unmittelbarkeit der Ereignisse. Durch das immersive Erlebnis wird das Publikum nicht nur zum passiven Beobachter, sondern Teil des Geschehens. Diese Einbindung hat mir auch sehr geholfen, wach zu bleiben, denn immer wieder passiert irgendetwas Spannendes. Am Ende des Stücks wird noch einmal alles auf links gedreht. Tatsachen, die vorher als solche etabliert wurden, werden auf den letzten Metern noch einmal in ein völlig neues Licht gerückt.

Szenenbild aus A MIRROR - Mei (Tanya Reynolds), Adem (Samuel Adewunmi) und Kulturminister Čelik (Jonny Lee Miller) - Photo by Marc Brenner
Photo by Marc Brenner

Schauspiel mit Botschaft

Dieser Twist offenbart auch wie gut das Ensemble hier spielt. Denn erst kurz vor Ende taucht nämlich die „Vorlage für Čelik“ im Saal auf. Und erst, wenn man den Vergleich zum „Original“ hat, erkennt man was Jonny Lee Miller hier mit seiner Rolle erreichen wollte. Dass man bis zu diesem Moment keinen Verdacht an der Figur schöpft, mag sicherlich sehr an Millers energischer Art und Autorität liegen, die im direkten Kontrast zur biederen, zurückhaltenden Tanya Reynolds als Mei und dem auch sehr zurückhaltend spielenden Adem (Samuel Adewunmi) steht. Geoffrey Streatfeild als Bax geht da ein bißchen unter. Die Ensembleleistung sowie auch das tolle Bühnenbild von Max Jones und den immersiven Elementen machen große Lust darauf, sich das Stück nochmal mit dem Wissen, das man nach dem Stück gesammelt hat, neu anzuschauen.

8/10

Bewertung: 8 von 10.

Gesehen am 4. März 2024 im Trafalgar Theatre

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