Für alle, die nicht in Großbritannien leben, aber nicht auf fantastisches Schauspiel verzichten wollen, für die gibt es ja glücklicherweise NT Live. Und Rory Kinnear. Dass er ein fantastischer Schauspieler ist, weiß ich nicht erst seit OTHELLO. In YOUNG MARX spielt Kinnear den revolutionären Denker, der sich 1850 in der Dean Street in Soho versteckte. Marx gerät dort öfters in Konflikt mit der Polizei.
Spione rivalisierender Interessengruppen machen ihm das Leben schwer. Er selbst, ein brillianter Denker, leidet unter einer Schreibblockade. Seine Frau Jenny (Nancy Caroll) ist die dauerhaft angespannte Lebenssituation leid und droht immer wieder damit, die Familie zu verlassen. Sein Sohn Fawksey (Rupert Turnbull) ist krank, seine Tochter Qui Qui (Harriet Turnbull) muss aufgrund der Geldnot der Familie auf ihr heißgeliebtes Klavier verzichten. Und dann wäre da auch noch die Haushälterin Helene “Nym” Demuth (Laura Elphinstone), die nach einer Nacht mit Marx von diesem schwanger ist. Friedrich Engels (Oliver Chris), ein Freund der Familie, versucht Marx wieder auf den richtigen Weg zu bringen.
Der unbekannte Marx und seine Frauen
Obwohl ich die wichtigsten Passagen von “Das Kapital” in Volkswirtschaftskunde durchgenommen wurde, weiß ich im Grunde auch nicht mehr als die 3-Satz-Zusammenfassung über Karl Marx auf Wikipedia. Kinnear, der meistens unterkühlte, rationale Charaktere verkörpert, die hinter den Kulissen werkeln und selten etwas zu lachen haben, darf hier genau das tun.
Mit dem vollem Haar, Sarkasmus und Einfallsreichtum – insbesondere, wenn es darum geht, der Polizei zu entwischen – hat er die Sympathien schnell auf seiner Seite. Genauso wie Marx‘ Frau Jenny (Nancy Caroll), die mit den Marotten ihres Mannes kämpfen muss und es leid ist, ihn ständig vor der Polizei zu verleugnen. Schauspielerisch sind neben dem immerguten Kinnear besonders die Frauen. Caroll und Elphinstone halten den Laden zusammen, den die Männer durch affektiertes Verhalten (z.B. Duell zur Morgenstunde) immer wieder ins Wanken bringen. Sie haben auch eine Stimme und ergreifen das Wort nur allzu gern. Zum Höhepunkt kommt es dann – Wortspiel nicht beabsichtigt – als Marx mit Nym ein Kind zeugt und dies vor seiner Frau geheimzuhalten versucht. Natürlich ist das als Zuschauer ziemlich lustig anzusehen, aber irgendwie bleibt auch das fade Gefühl, dass man hier das ein oder andere lustiger herüberbringt als die historischen Fakten das unterstützen.
Set und Wort
Was direkt ins Auge fällt, ist das auffällige Setdesign. Das Haus, das auf einer Drehbühne steht, ist wahlweise ein Antiquariat, die Wohnung von Karl Marx oder ein Versammlungsort von Gleichgesinnten. Von außen ist es entweder die Außenmauer einer Kirche oder ein Wohnhaus im Londoner Stadtteil Soho.
Großartig sind alle Passagen, in denen Deutsch gesprochen wird. Hier macht es besonders Spaß Muttersprachler zu sein und bewusst fehlerhafte Übersetzungen vom Deutschen ins Englische zu erkennen. Deutsch wird auch immer nur gesprochen, wenn es um etwas geht. Die individuelle Freiheit zum Beispiel. So werden dem Polizisten, der Marx jagt, deutsche Wörter um die Ohren geworfen. Untereinander wird natürlich flüssiges Englisch gesprochen. Dieses stilistische Mittel sorgt neben dem sich durchziehenden Sarkasmus und Ironie für konstant gute Laune. YOUNG MARX unterhält. Trotzdem bleibt bei aller Unterhaltung das Gefühl, dass das Stück nur an der Oberfläche kratzt.
4.5/6 bzw. 7.5/10
Trailer: © National Theatre