Ich bin der 30%-Rabatt-Aktion an Pfingsten vom Münchner Volkstheater verfallen. Denn ohne die hätte ich nicht spontan DER BESUCH DER ALTEN DAME gesehen. Regisseurin Sapir Heller hat sich Dürrenmatts Klassiker vorgenommen und dreht die Geschichte zwei Generationen weiter. Die Enkelin von Claire Zachanassian (Nina Steils) kommt für einen Auftritt nach Güllen, der verarmten Heimatstadt ihrer Großmutter. Da sie sich mit deren Vergangenheit nie richtig auseinandergesetzt hat, ist sie gespannt, Güllen endlich kennenzulernen. Der Klang ihres Nachnamens bringt die ganze Stadt auf die Beine. Man erhofft sich eine Finanzspritze durch die Erbin der reichen Dame. Doch schnell merkt Zachanassian, dass noch etwas anderes mitschwingt. Die Güllener sind allesamt Nachgeborene und kennen die alte Dame nur aus Erzählungen. Erst nach und nach erfährt die Enkelin, dass Alfred Ill, nachdem er ihre Großmutter geschwängert hat, die Vaterschaft abstritt und die Schwangere ins Ausland fliehen musste. Claire wird klar, dass die ganze Stadt daran eine Mitschuld trägt, die nicht aufgearbeitet wurde. Da die Güllener das ganz anders sehen – alles Schnee von gestern, sowas könne heute nicht mehr passieren – setzt sie ein üppiges Kopfgeld auf Alfred Ills Enkel (Jonathan Müller) aus.

Schuld vererben
Sapir Heller verlegt DER BESUCH DER ALTEN DAME in die Enkelgeneration und setzt sich mit der Vererbung von Traumata und kollektiver Schuld auseinander. Die Verlagerung auf die Enkelgeneration funktioniert in vielerlei Hinsicht ziemlich gut. Allerdings hat sich der Ill in Hellers Adaption im Vergleich zu seinem Urgroßvater weitaus weniger zuschulden kommen lassen. Während der Urgroßvater – wie auch der Richter Hofer zu Beginn des Stücks erklärt, Falschaussagen gegenüber der alten Claire Zachanassian gemacht hat, die sie aus dem Dorf getrieben haben, ist Ills einziges Vergehen, dass er Hofer zum Schweigen bringen und die Geschichte unter den Teppich kehren wollte. Der Regisseurin geht es nicht um die originale Konstellation von Täter und Opfer, sondern um die Frage, wie sich historische Traumata über Generationen hinweg auswirken. Die Enkelin hat das Unrecht nicht selbst erlebt, trägt aber die Wunden ihrer Großmutter trotzdem in sich. Umgekehrt haben die heutigen Güllener die Tat nicht selbst begangen, weigern sich aber, sich damit auseinanderzusetzen. Hellers Regie balanciert geschickt zwischen Komödie und Drama. Es gibt durchaus Momente zum Lachen, insbesondere dann, wenn die Güllener alle möglichen Verrenkungen anstellen – und das ist hier wortwörtlich so gemeint – um Claire zu beindrucken. Dennoch behält das Stück seinen bitteren Beigeschmack.

Die verdorrten Wurzeln des alten Baumes
Das Bühnenbild von Anna van Leen ist ziemlich beeindruckend. Mitten im Stück hebt sich die Bühne in die Höhe. Während man oben die weißen Baumkronen sieht, in denen das Ensemble herumkraxelt, kommen plötzlich die abgestorbenen Wurzeln des Baumes zum Vorschein. Was auf der Oberfläche grünt und blüht, ist darunter bereits verfault. Genauso verhält es sich mit der Vergangenheit von Güllen: schön reden lässt sich viel, aber die Wurzeln sind krank. Der Reiz von Hellers Inszenierung liegt in der Aktualität ihrer Fragestellung. Wie geht eine Gesellschaft mit unaufgearbeiteter Schuld um? Was passiert, wenn Traumata weitergegeben werden, aber nie benannt wurden? Die Güllener reden ständig darüber, wie schön früher alles war, die wahren Umstände werden bis zur Unkenntlichkeit verklärt. Daher fällt auch wiederholt der Satz: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“.

Relevanz für das Heute
Nina Steils verkörpert die Enkelin mit einer Mischung aus Neugier und wachsender Empörung. Sie will verstehen, warum ihre Großmutter nie über ihre Vergangenheit gesprochen hat. Dabei stößt sie aber überall auf taube Ohren. Für mich ist sie definitiv eine Entdeckung, zumal sie im traurigen Finale auch noch fantastisch singt. Auch Jonathan Müller überzeugt als Ill und wird immer mehr zum Spielball von Mächten, denen er sich schließlich nach erstem Widerstand nur noch ergeben kann. Hellers Adaption macht deutlich, dass Schweigen keine Lösung ist. Wer sich nicht mit der Vergangenheit beschäftigt, kann auch keine Verantwortung für das Jetzt übernehmen. DER BESUCH DER ALTEN DAME zeigt, wie notwendig es ist, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Die Aktualisierung des Stoffes ist weitestgehend gelungen. Die Inszenierung am Münchner Volkstheater überzeugt mit starken schauspielerischen Leistungen und stellt unbequeme Fragen ohne dabei einfache Antworten zu geben.
Gesehen am 18. Juni 2025 im Münchner Volkstheater
8.5/10



