Fúsi (2015)

Manchmal möchte man schon wissen, was in den Köpfen der deutschen Verleiher vor sich geht. Der isländische Originaltitel FÚSI, benannt nach dem Protagonisten der Geschichte, wurde „eingedeutscht“ in VIRGIN MOUNTAIN. Ein Begriff, der absolut gar nichts mit der Handlung zu tun hat und dort auch nie auftaucht. Schlimmer noch, für den DVD-Start bekam der Film den kitschig klingenden Untertitel „Außenseiter mit Herz sucht Frau fürs Leben“ spendiert. Fúsi (Gunnar Jónsson) wohnt mit Anfang 40 immer noch bei seiner Mutter (Margrét Helga Jóhannsdóttir). Auch sonst führt der füllige Isländer, der Tag ein, Tag aus am Flughafen die Gepäckstücke befördert, ein Leben, das eher an einen Jugendlichen erinnert: statt Kaffee trinkt er am liebsten Milch, seine Freizeit verbringt er mit ferngesteuerten Autos oder Spielzeugsoldaten, mit denen er Schlachten des Zweiten Weltkriegs nachstellt. Von seinem Kumpel Mordur (Sigurjón Kjartansson) abgesehen, der sein Interesse an Militärgeschichte teilt, hat Fúsi keine Freunde. Seine Arbeit ist alles andere als ein Vergnügen, zumal ihn seine Kollegen immer wieder aufs Neue wegen seines Gewichts aufziehen, doch das lässt Fúsi alles über sich ergehen, statt sich bei seinem Arbeitgeber zu beschweren. Das kleine Nachbarsmädchen Hera (Franziska Una Dagsdóttir) erkennt sofort, wie einsam er ist. Um Fúsi wieder unter Leute zu bringen, schenken ihm seine Mutter und ihr neuer Freund zum Geburtstag einen Gutschein für einen Tanzkurs. Widerwillig kommt Fúsi der Bitte nach, geht aber in der ersten Stunde kurz vor Beginn wieder und sitzt die restliche Zeit in seinem Auto vor dem Tanzstudio ab. Als ihn später die vom Regen überraschte Sjöfn (Ilmur Kristjansdóttir) fragt, ob er sie nach Hause bringen könnte, lässt er sich überreden. Sjöfn motiviert ihn es doch noch einmal mit dem Tanzen zu versuchen. Auf den Line-Dance hat er nicht wirklich Lust, doch die sympathische Sjöfn hat es ihm angetan. Von seinen eigenen Gefühlen überrascht, fasst Fúsi, der noch nie im Ausland war, einen Entschluss: er will zusammen mit Sjöfn nach Ägypten reisen. Doch als er bei ihr mit den Tickets  vor der Tür steht, erlebt er eine böse Überraschung. Sjöfn leidet an Depressionen und will nichts von ihm wissen. Trotzdem beginnt er sich liebevoll um sie zu kümmern.

Szenenbild FÚSI - VIRGIN MOUNTAIN - © Alamode
© Alamode
Harte Schale, weicher Kern

Produziert wurde VIRGIN MOUNTAIN unter anderem von Káris Regiekollegen Baltasar Kormákur (EVEREST). Beim Tribeca Film Festival in New York wurde der Film mit gleich drei Preisen für den besten Spielfilm, den besten Hauptdarsteller und das beste Drehbuch ausgezeichnet – völlig zu Recht. FÚSI ist im Grunde die Coming-of-Age-Geschichte eines bereits Erwachsenen, was schonmal per se sehr ungewöhnlich ist. Zeitgleich behandelt er viele verschiedene Themen, die allesamt immer wieder neu aufgegriffen werden. Das Hauptthema ist die Liebe in der heutigen Zeit.  Eine Freundin findet sich über das Internet schnell, meint Rolf, der Freund von Fúsis Mutter. Der Film zeigt auch, welchem Druck alleinstehende Menschen ab einem bestimmten Alter ausgesetzt sind. Die Arbeitskollegen von Fúsi haben „Mitleid“und wollen ihm eine Nacht mit einer Stripperin spendieren. Auch die Eltern wünschen sich Nachwuchs oder zumindest, das ihr Kind endlich aus dem Haus kommt. Selbst das kleine Nachbarsmädchen ist schon dahingehend sozialisiert: zu jeder Barbie gehört ein Ken. Warum hat also Fúsi noch keine Freundin und spielt mit Kinderspielzeug, fragt sie sich. Dagur Kári, der auch für das Drehbuch verantwortlich war, lässt sich beim Erzählen Zeit und vermeidet die typischen Klischees von klassischen „Mann-liebt-Frau“-Schmonzetten.

Szenenbild FÚSI - VIRGIN MOUNTAIN - © Alamode
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Weiteres Subthema ist der Schönheitswahn. Aufgrund von Fúsis Körperfülle wird ihm immer wieder das Leben schwer gemacht. Arbeitskollegen unterstellen ihm, er müsse noch Jungfrau sein, welche Frau würde mit ihm schon schlafen. Kári lässt diese Annahme auch bewusst unbeantwortet. Man könnte in diesem Film gar ein Plädoyer für ein Anti-Kino sehen. Im Kino sieht man ja gerne hübsche gestählte Körper ohne Makel. Islands Antwort ist Gunnar Jónsson, ein absolutes Gegenbeispiel von Glanz und Glamour. Er spielt den starken, technikaffinen und herzensguten Fúsi mit minimaler, doch ausdrucksstarker Mimik und grummelnder Behebigkeit. Ein, zweimal fragt man sich nach Fúsis Motivation, aber man ist fasziniert und gerührt und schaut gerne seiner Suche nach dem Glück zu. Der zarte klavierlastige Soundtrack unterstützt die Handlung.

Fantastisches Drama mit großartigen Darstellern (5.5/6)

Trailer: © Alamode Filmverleih

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